Dienstag, 15. Oktober 2024
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Eine Ruine mit fünf Sternen

Beppe Grillo scheint ein Hoffnungsträger zu sein.© Niccolò CarantiDie italienische Innenpolitik ist etwas für Liebhaber des Absurden. Dostojewskijs „Dämonen“ in einer Adaption von Beckett, verfilmt von den Coen-Brüdern, ergäbe eine charmante Annäherung daran, was sich im Palazzo Montecitorio seit Jahrzehnten tut.

Wenn ein Land fast ein halbes Jahrhundert von einer Partei – unabhängig davon, welche Seite sie vertritt – regiert wird, hat das einen Preis, einen hohen. Der Democrazia Cristiana ist es in den viereinhalb Jahrzehnten ihrer Machtausübung gelungen, aus einem rückständigen Agrarstaat eine der führenden Industrienationen der OECD zu machen. Dafür mussten die Wähler mit immer neuen Verlockungen an der Stange gehalten werden, unter tatkräftiger Unterstützung von Interessenvertretern der USA – es war der Kalte Krieg, Italien spielte eine strategische Hauptrolle innerhalb der NATO, und um Schönheitspreise der Demokratiepflege ging es nie. Dafür nutzte man die Mithilfe gewisser Geheimgesellschaften, von der Mafia bis zur Loge P2 – Ziel war die unbedingte Verhinderung einer kommunistischen Machtbeteiligung.

Es wird oft vergessen, dass Portugal, Spanien, Griechenland und die Türkei bis in die Siebziger und Achtziger Militärdiktaturen waren, dass die Bedrohung durch die zweitgrößte kommunistische Partei in Italien durchaus real war, und dass Terror von beiden Seiten des politischen Spektrums einen unerhörten Blutzoll forderte.

Der Weg ins Chaos

Die enorm erfolgreiche Exportnation, die Europa mit den ersten leistbaren Motorrollern, mit Waschmaschinen, Sportwagen und Mode überflügelte, alles von einer erlesenen Eleganz und Schönheit, begann seit den Achtzigern ökonomisch auszubluten. Damals stellte ein Journalist fest, dass fast die Hälfte der Bezieher einer Blindenrente einen Führerschein besaß. Um Beziehungen drehte sich bald alles, Firmengründungen, Arbeitsplätze hingen nicht vom Bedarf ab, sondern davon, ob sich daraus Kapital schlagen ließ in Form von Wählerstimmen. Wenn die Inflation allzu hoch zu werden drohte, tauschte man eines der zwölf (!) Produkte im Warenkorb einfach aus. Es war alles ganz einfach.

Im Palazzo Montecitorio, dem römischen Parlament, übergaben Väter ihren Parlamentssitz an Söhne, die „Kaste“ an Politikern, die sich so herausbildete, war von einer Hemmungslosigkeit und beseelt von Selbstbereicherung, die ihresgleichen in der Epoche der Renaissance- und Nepoten-Päpste hatte. Der Haushalt des italienischen Staatspräsidenten kostete viermal mehr als jener des englischen Königshauses und das Achtfache des deutschen Bundespräsidenten.

Der Umbruch, der keiner war

Als die Berliner Mauer fiel, als die kommunistischen Staaten implodierten, war es plötzlich mit der strategischen Bedeutung vorbei – und mit der schützenden Hand aus Washington. Die kommunistische Partei löste sich aufgrund erwiesenen Anachronismus auf, die christlich-konservative versank in einem Sumpf aus Korruption und Amtsmissbrauch, den mutige Staatsanwälte nun endlich ans Licht zerren konnten.

In das entstandene völlige Machtvakuum stieß ein Mann vor, der neue politische Maßstäbe setzen sollte – Silvio Berlusconi. Anfangs von seinen Anhängern als Messias bejubelt, müssen heute seine zwanzig Jahre als verlorene für Italien gelten. Neben seinen teils originellen Methoden der Freizeitgestaltung ging es in vieler Hinsicht um das Motto der italienischen Politik schlechthin: „Wenn wir wollen, dass alles bleibt wie es ist, muss sich alles ändern.“, so hatte Lampedusa die Tragödie des modernen Sizilien beschrieben, nun wurde dies das Schicksal des ganzen Landes.
Berlusconi scheiterte nicht an seinen Affären, nicht einmal an der erwiesenen Unfähigkeit, die lebenswichtigen Reformen seines Landes anzusetzen. Er scheiterte am immer virulenter werdenden Misstrauen in Brüssel, Frankfurt und Berlin, dass Italien ein zuverlässiger Partner im Euroraum bleiben würde. Es war in den Augen vieler Italiener ein Putsch, der Berlusconi ins Aus katapultierte und eine Expertenregierung an die Macht brachte, die vielerorts als aufgezwungene Fremdherrschaft aufgefasst wurde.

Inzwischen ist der Lebensstandard der jungen Generation geringer als der ihrer Großeltern, die Jugendarbeitslosigkeit ist eine europäische Schande, die Macht der Parteien, Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände ist ungebrochen und widersetzt sich triumphierend jeglichem Reformansatz.

Spielerwechsel

Die Entwicklung eines demokratischen Bewusstseins braucht Zeit. Nicht zufällig ist der Faschismus in den beiden „späten“ Nationen, Deutschland und Italien, ausgebrochen, die beide erst 1871 entstanden waren. Inzwischen hat die Demokratie in Italien den Stellenwert eines Drittliga-Spiels der nationalen Droge. Catenaccio wird immer noch als die vollendetste Form des effizienten Fußballs angesehen, es geht ums Gewinnen, und es geht ums Zerstören des gegnerischen Spiels.

Mit Beppe Grillo ist für internationale Beobachter lange Zeit unbemerkt ein Phänomen zu einem wichtigen Spieler geworden, der gerade jetzt vielen ein Hoffnungsträger zu sein scheint. Der ehemalige Satiriker hat seit den späten Neunzigern als erster die Macht des Internet erkannt und wurde als Verfasser eines Blogs zur nationalen Berühmtheit, der zeitweise zu den zehn meistgelesenen der Welt gehörte. Als Vorbestrafter (Verursacher eines Autounfalls mit drei Todesopfern) sind seinen persönlichen Ambitionen Grenzen gesetzt, seine politische Sammelpartei, die Fünf-Sterne-Bewegung, führt heute die meisten landesweiten Umfragen an.

Renzis gescheiterter va banque-Versuch einer Reform des Zwei-Kammer-Systems (der Senat ist legendär für seine machiavellistischen Umtriebe), das offensichtliche Versagen und ungebrochene Mauscheln der Nachfolger der beiden ehemaligen Großparteien links und rechts der Mitte, aber auch der Lega Nord, haben dazu geführt, dass erneut ein Vakuum entstanden ist, das ausgefüllt werden will.

Bei Beppe Grillo sammelte sich unterdes ein breites Spektrum an Gewillten, von der Proteststimmung im Land zu profitieren. Dieses Spektrum reicht von weit links bis weit rechts, in guter alter Tradition des ständigen Suchens nach Verbündeten unabhängig von Glaubhaftigkeit oder Reformwillen. Grillo ist ein rhetorisches Genie, seine eloquente und überaus unterhaltsame Anprangerung all dessen, das Italien nach seinen Worten in den Abgrund zu führen scheint, spricht vielen Italienern aus der Seele. Selbst der Nachweis, dass er sich in seiner politischen Tätigkeit wirtschaftlich nicht zu seinem Nachteil entwickelt hat und mehr als vier Millionen Euro als Jahreseinkommen deklarierte, kann seine Anhänger nicht davon abhalten, ihn an die Macht bringen zu wollen. Ihn, wie das der Economist tat, als Synonym für „Send in the Clowns“ zu analysieren, greift jedenfalls zu kurz. Grillo ist ein erstzunehmender Faktor geworden.

Inzwischen regiert eine Vertreterin des Movimento 5 Stelle unter anderem auch in Rom, wo es niemanden verwunderte, dass umgehend Korruption und Amtsmissbrauch auch am Kapitol wieder Einzug gehalten haben, nach kurzem Staunen über eine sich verändernde Welt.

Im Out

Vielleicht hat Beppe Grillo jedoch nun den Bogen überspannt. Zum fassungslosen Entsetzen vieler seiner Anhänger (allerdings unter der Zustimmung der Teilnehmer  an einer parteiinternen Befragung) legte er in diesen Tagen eine frappierende Volte hin: der ewige Bekämpfer der Europäischen Union, der einen Austritt Italiens als einzig gangbaren Weg beschrieb, stellte einen Antrag auf Aufnahme in die Fraktion der EU-Liberalen, und damit einer überaus EU-befürwortenden Gruppierung.

Dass diese den Schwenk aus dem Farange-Lager abgelehnt hat, stellt die Fünf Sterne-Bewegung vor ein schwerwiegendes Dilemma. Dass wiederum Guy Verhofstadt diesen Plan zunichtemachte, dem sehr starke Ambitionen auf die Nachfolge von Martin Schulz nachgesagt werden, ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, zu dem eine bisher geheim gehaltene Vereinbarung zwischen der EVP und der Fraktion der Sozialdemokraten und Sozialisten sowie den Liberalen über ebendiese Nachfolge des Parlamentspräsidenten publik wird, stärkt das Vertrauen vieler EU-Bürger in ihre Institutionen nicht markant. Die Usancen der italienischen Innenpolitik haben Europa erreicht.

Sintflut ahoi

Die drittgrößte europäische Volkswirtschaft steht vor dem Kollaps, das italienische Bankensystem existiert nur noch, weil sein Zusammenbruch eine europäische und wohl weltweite weitere und absehbarerweise noch schwerere Krise auslösen würde. Verglichen mit der Problematik dessen, was sich abzuzeichnen beginnt, waren die Erschütterungen in Griechenland oder Spanien bloß ein sanftes Rumoren vor dem großen Beben. Man kann auch eine Krise von der Dimension jener der italienischen Wirtschaft in den Griff kriegen. Dies ist jedoch nur möglich, wenn den Lenkern und ihren Wählern zugetraut werden kann, mit Opferbereitschaft, Ernsthaftigkeit und Ehrlichkeit die Schritte zu unternehmen, die unumgänglich notwendig sind.

Bevor das in Italien eintritt, wird dort der Boden bereitet für einen starken Mann. Eine desillusionierte, geschwächte und demoralisierte Nation beginnt sich der Versuchung zu ergeben, um jeden Preis eine Änderung des Status Quo zu erreichen. Dieser Preis kann Europa sich selbst kosten.

 

 

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