Samstag, 5. Oktober 2024
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“Eine Rückeroberung des Taksim-Platzes wäre für Erdogan die Krönung seiner neo-osmanischen Rhetorik”

Die Architektin Ipek Yada Akpinar ist aktives Mitglied der Istanbuler Bürgerinitiative Taksim-Plattform, die sich gegen die Abholzung der Bäume im Gezi-Park und die geplante Umgestaltung des Taksim-Platzes wehrt. An diesem Projekt hat sich die seit zwei Wochen andauernde Protestbewegung in der Türkei entzündet. Im Interview mit EU-Infothek spricht sie über Pluralismus, soziale und ethnische Säuberungen in Istanbul und eine sehr entschlossene türkische Jugend.

[[image1]]Frau Akpinar, wie hat sich das Stadtbild Istanbuls in den letzten zehn Jahren, also seit in der Türkei die derzeitige AKP-Regierung an der Macht ist, verändert?

Ich möchte darauf nicht als Architektin, sondern eher mit meiner urbanen Identität antworten. Als Bewohnerin von Istanbul bin ich der Meinung, dass enorme Dienste erbracht worden sind, um eine in die moderne Welt integrierte Stadt hervorzubringen. Das kann niemand leugnen. Andererseits werden ständig in meinem Namen Entscheidungen getroffen, bei denen ich als Bewohnerin dieser Stadt nicht gefragt werde. Ohne jegliche Transparenz werden unzählige Projekte entworfen – auf der Website der Stadtverwaltung sind es rund 3500!

Die zunehmende Größe der Stadt – von 4000 Hektar im Jahr 1950 auf 200.000 Hektar heute – und die Globalisierung haben natürlich auch das Erscheinungsbild geprägt. Zum einen gibt es außerordentlich viele große Einkaufszentren, die die Konsumkultur unterstützen und anheizen. Die wirtschaftliche Entwicklung hat natürlich auch den Bau zahlreicher Arbeitsstätten und Bürogebäude – Banken, Versicherungen, usw. – mit sich gebracht. Und drittens wurden aufgrund der Bevölkerungsentwicklung unzählige Wohnhäuser erbaut. Da ich mich vornehmlich mit den Themen städtische Geschichte und urbane Soziologie beschäftige, betrachte ich diese Entwicklung unter dem Aspekt einer gewissen Spaltung der Gesellschaft. Wo jemand lebt, wo jemand arbeitet, weist jetzt direkt darauf hin, welcher sozialen Schicht jemand angehört. Die äußerliche Veränderung der Stadt und die gesellschaftliche Veränderung verlaufen parallel.

Wie hat sich das auf die Grünflächen der Stadt ausgewirkt?

Rund 45% Istanbuls ist Waldfläche, also die Lunge der Stadt, die nicht bebaut werden darf. Aber immer schneller werden immer mehr Teile dieser Wälder – vor allem in Richtung Norden – zur Bebauung freigegeben. Menschen aus niedrigen Einkommensschichten inmitten der Stadt – Maltepe, Küçükçekmece und zuletzt vor einem Jahr in Sulukule, wo hauptsächlich Roma lebten – werden zwangsweise in diese abgelegenen Gebiete umgesiedelt. Hier findet eine soziale und ethnische Säuberung statt, eine gesellschaftliche Tragödie. Zudem handelt es sich um das einzige Gebiet Istanbuls, wo eine biologische Landwirtschaft möglich ist. Dieses Gebiet, das für die Zukunft unserer Kinder und Enkelkinder von entscheidender Bedeutung ist, wurde in Bauland umgewidmet – auch das ist eine Tragödie.

Mitten in diesen Volksaufstand, der sich an der geplanten Rodung von ein paar Dutzend Bäumen in einem Park entzündet hat, kamen neue Gesetzesvorhaben ins türkische Parlament, die noch viel größere Umweltschäden anrichten würden, mit bis zu 700.000 Bäumen, die gefällt werden sollen. Ist das eine Provokation?

Das glaube ich nicht, das ist wohl im normalen Gesetzgebungsprozess eher zufällig so passiert. Ich denke nicht, dass sie sich eine so kluge Taktik ausgedacht haben. Vielleicht ist es aber besser so, denn andernfalls wäre die Öffentlichkeit vielleicht gar nicht darauf aufmerksam geworden. Jetzt können wir vielleicht auch dagegen etwas unternehmen. Das türkische Parlament ist ein von uns gewähltes Parlament, dessen Vernunft wir vertrauen müssen. Aber offenbar dringt unsere Stimme bis zu den Abgeordneten nur schwer durch, deshalb müssen wir wohl lauter werden.

Es gibt eindeutige Gerichtsbeschlüsse und Expertengutachten gegen das Gezi-Park-Projekt der Regierung, von der ablehnenden Haltung der unmittelbar betroffenen Bevölkerung ganz abgesehen. Kann dieses Projekt von der Regierung trotzdem durchgezogen werden?

All diese Projekte sind eigentlich für das Wohlergehen der Stadtbewohner gedacht, vom Kleinkind bis zur Großmutter. Der Gezi-Park hat darüberhinaus einen ganz besonderen Stellenwert: Er steht an einem Ort, der seit über 70 Jahren historische Bedeutung für das ganze Land erlangt hat, am Taksim-Platz. Wenn wir trauern, gehen wir dorthin; den 1. Mai feiern wir dort; die Anhänger unserer Fußballvereine feiern dort ihre Meisterschaft, alle großen demokratischen Demonstrationen finden dort statt. Das sind nicht einfach nur 70 Bäume in einem Park – dieser Ort ist das gesellschaftliche und kulturelle Gedächtnis der Türkei. Hier spielt das dreijährige Enkelkind der alten Armenierin, hier fährt das Kind des Hausmeisters Rad, hier kommt auch das Kind der Mittelschicht-Familie zum spielen her. Jeder kann hier auf einer Bank sitzen, ohne etwas zahlen zu müssen. Dieser Park ist ein echter Teil des Alltags und ein wirklich öffentlicher Platz.

Mit diesem hinter verschlossenen Türen ausgedachten und von oben aufgestülpten Projekt privatisiert der Premierminister Erdogan diesen Ort, den ich seit 35 Jahren nutze. Er hat offensichtlich vergessen, dass er schon lange nicht mehr Bürgermeister von Istanbul ist. Und er hat wohl auch vergessen, dass diese Stadt einen Masterplan hat, der in dreijähriger Arbeit entworfen, von rund 400 Akademikern unterzeichnet und vom Stadtparlament einstimmig angenommen worden ist. Und darin ist dieser Ort weiterhin als Park vorgesehen.

Ist es eine Eigenart der türkischen Politik, dass ein Regierungschef höchstpersönlich darüber entscheidet, ob in einer Stadt ein Einkaufszentrum gebaut wird? Hat Erdogan keine wichtigeren Beschlüsse zu fassen?

Ich bin sicher, dass er wichtigere Entscheidungen zu treffen hätte. Aber dieser Ort hat eine große Bedeutung als Symbol für die moderne, säkulare türkische Republik von Atatürk. Diesen Ort einzunehmen, quasi zurückzuerobern, hat natürlich auch eine ideologische Bedeutung. Zudem ist Taksim als geographisches und wirtschaftliches Zentrum der Stadt natürlich eine enorme potenzielle Einnahmequelle – man denke nur an die Immobilien. Weil er alles durch die ökonomische Brille sieht und nur Berater um sich hat, die in nordamerikanischen Wirtschaftsuniversitäten ausgebildet worden sind, erscheint dem Premierminister alles, was grün ist, nur als Profitquelle.

Können sie auf den ideologischen Aspekt etwas detaillierter eingehen?

Taksim ist der wichtigste Platz, die Bühne der Hauptstadt des einstigen Imperiums. Inmitten all dieser neo-osmanischen Rhetorik muss man diesem Thron natürlich auch eine Krone aufsetzen. Das ist der ideologische Pfeiler der Rückeroberung Istanbuls. Daneben gibt es einen technologischen Pfeiler – der Bau einer dritten Brücke über den Bosporus – und einen religiösen Pfeiler: eine gigantische Moschee auf dem Camlica-Hügel – übrigens ein weiteres Naturwunder –, die von ganz Istanbul aus zu sehen sein soll. Kein einziges dieser Projekte ist im Masterplan für Istanbul enthalten.

Erdogan redet ständig von Demokratie, andererseits sagt er, er werde machen, was er will, egal ob es Andersdenkenden passt oder nicht. Was steckt hinter dieser sturen Haltung?

Vermutlich der Machtrausch. Er ähnelt darin einem seiner Amtsvorgänger, Adnan Menderes. Er spricht ständig von 51 Prozent der Stimmen, mit denen er an die Macht gekommen ist. Und was ist mit den anderen 49 Prozent? Dabei war er als Bürgermeister selbst in einer Position, wo er wegen eines Gedichts hinter Gittern gelandet ist. Jetzt landen alle hinter Gittern, die nicht seiner Meinung sind. Weltweit hat die Türkei die höchste Zahl an eingesperrten Journalisten. Vor wenigen Tagen hat das ganze Land gejubelt, weil eine Reuters- Korrespondentin Erdogan eine kritische Frage gestellt hat. Ist das normal? Kann es Aufgabe eines Regierungschefs sein, die Funktion eines Stadtparks in einer Weise zu verändern, die nicht im Masterplan vorgesehen ist, und darüber hinaus einen öffentlichen Ort zu privatisieren? Das ist eine völlig antidemokratische Einstellung.

Hört Erdogan denn überhaupt auf jemanden, hatte die Taksim-Plattform Kontakt zu ihm?

Wir haben viele Male um einen Termin bei ihm angesucht, aber seine Berater entschuldigen sich bei uns, weil sie es nicht einmal wagen, ihn auf das Thema Taksim anzusprechen. Was für eine Atmosphäre des Terrors und der Angst muss dort herrschen, dass es kein Bürokrat wagt, dem Premierminister eine Terminanfrage zum Thema Taksim zu übermitteln? Diese undemokratische Haltung, dieses Ein-Mann-Regime ist für mich völlig unverständlich in einem Land des 21. Jahrhunderts, das über einen Beitritt zur Europäischen Union verhandelt. Dabei ist Herr Erdogan eigentlich ein kluger Politiker, der das Volk gut kennt.

Viele ausländische Kommentatoren sehen in diesem Volksaufstand einen Konflikt zwischen Säkularisten und Islamisten. Wie sehen sie das?

Wir sind ein gemischtes, vielstimmiges, vielfarbiges und tolerantes Volk; praktisch in jeder Familie gibt es Menschen, die die religiösen Vorschriften genauer einhalten und andere, die es damit nicht so genau nehmen. Diese religiösen Rituale wie das Gebet oder das Fasten im Ramazan gehören einfach zu unserer Kultur, und niemand – nicht einmal Atheisten – grenzt diese Menschen aus oder bekämpft sie. Vor 15, 16 Jahren, als eine religiös motivierte Partei erstmals an die Macht kam, gab es diese polarisierende Schwarz-Weiß-Berichterstattung in den Medien. Heute ist das eine veraltete journalistische Lesart. Hier geht es vielmehr um eine Politik, die sagt: Ihr müsst so leben, wie ich es sage, nach meinem Lebensstil. Ich sehe nicht, dass es eine derartige Forderung von der Basis gäbe, auch nicht von seinen eigenen Wählern. Wir sind Freunde und leben zusammen, ich habe Studentinnen mit Kopftuch, sie demonstrieren Seite an Seite mit uns. Ich glaube, dass Herrn Erdogan der Unterschied zwischen Pluralismus und Mehrheit nicht bewusst ist. Drei Wahlsiege in Folge haben bei ihm zu einem Machtrausch und zu einem übermäßigen Selbstbewusstsein geführt, das mittlerweile in unerträgliche Arroganz umgeschlagen ist.

Wie lange wird dieser Aufstand dauern, wie kann er beendet werden?

Das ist wohl die schwierigste Frage. Ich beobachte Folgendes: In den Jugendlichen hat sich sehr viel aufgestaut. Sie halten an ihrer Lebensart und Mentalität fest und verteidigen sie und fordern ganz klar eine pluralistische Demokratie. Sie werden nicht aufgeben. Die größte Provokation kommt von den Aussagen des Premierministers. Als er auf Auslandsreise war, sind die Spannungen in der Türkei merklich zurückgegangen. Als gewählter Premierminister dieses Landes und als Vater von drei Kindern liegt es an ihm, einen Aufruf zu machen, um diese Spannungen im ganzen Land zu vermindern. Er muss zuallererst die Polizeigewalt beenden und den Protestierenden die Hand reichen, sich entschuldigen und bekanntgeben, dass er dieses Projekt gänzlich aufgegeben hat und die Zerstörung der Natur stoppt. Das sind auch die Forderungen unserer Plattform. Stattdessen gießt er jedoch weiter Öl ins Feuer und provoziert so sehr wie möglich. Der Ball liegt beim Premierminister – diese Frage müssen sie eigentlich ihm stellen.

Danke für das Interview.

Zur Person:
Die Architektin Ipek Yada Akpinar (45) studierte in Istanbul, London und Argentinien und ist seit 1991 außerordentliche Professorin an der Technischen Universität Istanbul (ITÜ). Ihre Doktorarbeit am University College London trägt den Titel „The rebuilding of Istanbul after Henri Prost’s plan, 1936-1961: from secularisation to Turkish modernisation”. Sie ist Herausgeberin des türkischsprachigen Buches „Von der osmanischen Hauptstadt zur globalen Stadt: Architektur und die Stadt, 1910-2010“ und Autorin des Buches „Moonlight monastery/ Agios Dimitrios ta Selina“ (Akbanksanat, 2012).
 

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