Samstag, 12. Oktober 2024
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Junckers Team: Totaler Neustart in Brüssel

Alles neu macht der November. Das scheint das Motto von Jean-Claude Juncker zu sein, der  nach  einem stressigen taktischen Geplänkel die neue Kommission präsentiert hat. Im Team des EU-Präsidenten, das am 1. November starten soll, finden sich gleich 20 neue Gesichter.

[[image1]]Nur sieben bisherige Kommissare, darunter der Österreicher Johannes Hahn, der Deutsche Günther Oettinger sowie die Bulgarin Kristalina Georgieva und die Schwedin Cecilia Malmström, dürfen ihren Job behalten. Alles in allem hat Juncker eine Mannschaft nominiert, der fünf ehemalige Regierungschefs, vier Vizepremiers sowie 19 einstige Minister  angehören – sieht zwar auf den ersten Blick imposant aus, ob die sich Newcomer allesamt als Haupttreffer entpuppen werden, lässt sich freilich noch nicht abschätzen.

Fest steht einerseits, dass mit Andrus Ansip, der immerhin neun Jahre Regierungschef in Estland war, mit dem früheren lettischen Ministerpräsidenten Valdis Dombrovskis, der im November 2013 für eine Katastrophe in einem Supermarkt die Verantwortung übernommen und den Rücktritt erklärt hatte,  oder dem Finnen Jyrki Katainen, der seit sieben Jahren der finnischen Regierung angehörte und bis zu seinem Abgang im Juni 2014 Premierminister war, hochrangige, erfahrene Politiker nach Brüssel übersiedeln werden. Anderseits ist nicht zu übersehen, dass es auch einige weithin unbeschriebene Blätter geschafft haben, mit einer EU-Top-Funktion belohnt zu werden; darunter der maltesische Ex-Tourismusminister und Hotelier Karmenu Vella, der künftig für Umwelt, Fischerei & Meerespolitik zuständig sein soll, die bisherige rumänische EU-Abgeordnete Corina Cretu, die vom Österreicher  Johannes Hahn das Ressort Regionalpolitik übernehmen wird, oder der Zypriote Christos Styliandes, im Vorleben langjähriger Parlamentarier und zuletzt kurzzeitiger Regierungssprecher, demnächst im Dienste Europas für das Thema Humanitäre Hilfe & Zivilschutz verantwortlich.

Juncker hat es jedenfalls geschafft, sechs zusätzliche weibliche Kommissare aufzutreiben, womit die vom EU-Parlament geforderte  Quotenregelung von neun Damen erfüllt sein dürfte. So etwa haben ihn die Polin Elzbieta Bienkowska, 50jährige Infrastrukturministerin aus dem Kabinett Tusk und in Zukunft für das Ressort Binnenmarkt, Industrie und Unternehmen verantwortlich, oder die dänische Langzeitministerin Margrethe Vestager, die künftig für Wettbewerbsfragen verantwortlich sein wird, letztlich „gerettet“. Obendrein zeigt sich der Luxemburger hocherfreut, dass elf künftige Kommissare und -rinnen durchaus Erfahrung in Wirtschafts- und Finanzfragen mitbringen, womit etwa der Brite Jonathan Hill und die Bulgarin Kristalina Georgieva gemeint sind. Nicht weniger als acht neue Kommissare sollen dem Vernehmen nach etwas von Außenpolitik verstehen, was primär für die italienische Neo-Außenbeauftragte Federica Mogherini  gelten müsste.

In politischer Hinsicht ist die EU-Kommission, eine Art „Konzentrationsregierung“, konservativ geprägt: 14 Vertreter der Europäischen Volkspartei und mit dem Briten Jonathan Hill ein Konservativer stehen fünf Repräsentanten der Liberalen und lediglich acht Sozialdemokraten gegenüber. Wenn man bedenkt, dass der liberal-konservative Pole Donald Tusk obendrein als künftiger Ratspräsident installiert wurde, nachdem er die sozialdemokratische Ministerpräsidenten Dänemarks, Helle Thorning-Schmidt, aus dem Rennen werfen konnte, haben Europas rote Parteien, die mit Martin Schulz weiterhin den EU-Parlamentspräsident stellen, doch deutlich den Kürzeren gezogen. Als Trostpflaster bekamen sie jedenfalls das Amt des Ersten Vizepräsidenten, das der Niederländer Frans Timmermans bekleiden wird.

Neue Aufgaben für alle

Der nächste EU-Boss hat den Mut aufgebracht, der Kommission eine neue Struktur zu verpassen – ein prinzipiell zu begrüßendes Experiment, allerdings mit offenem Ausgang: Juncker gliedert seine Mannschaft, die er als begeisterter Fußballfan schon jetzt als „Siegerteam“ lobt, in sieben Projektgruppen, die jeweils einem seiner Vizepräsidenten unterstellt sein werden. So wird beispielsweise das vom Finnen Katainen angeführte Projektteam „Arbeitsplätze, Wachstum, Investition und Wettbewerbs-fähigkeit installiert, das so wie die übrigen Polit-Cluster eine dynamische Interaktion aller handelnden Kommissare möglich machen und das bisherige Schubladendenken beenden soll. Klingt, wie bereits angedeutet, wunderbar, birgt allerdings das Risiko potenzieller Konflikte in sich, weil damit sozusagen Ober- und Unterkommissare geschaffen werden. Der österreichische Kommissar etwa, neuerdings für Nachbarschaft & EU-Erweiterung zuständig, wird der in politischen Dingen relativ unerfahrenen Italienerin Mogherini unterstellt sein, was bei ihm nicht unbedingt Freudentänze auslösen dürfte. Man kann jedenfalls nur hoffen, dass sich die Zusammenarbeit in möglichst großer kooperativer Harmonie abspielen wird und nicht unentwegt prestigebedingte Hahnenkämpfe zwischen den erst- und zweitklassigen Kommissaren stattfinden.

Die Zuteilung der Ressorts nach Mitgliedsländern – für Juncker ein komplizierter Trapezakt ohne Netz – wurde so gelöst: Die großen Staaten bekamen für ihre auserwählten Kandidaten die besonders interessanten bzw. wichtigen Aufgaben überantwortet: Großbritannien etwa den Bereich Finanzstabilität & Bankenunion, Frankreich die Agenda Wirtschaft, Zölle, Finanzen & Steuern, und Polen darf sich um Binnenmarkt & Industrie kümmern. Eine Aufwertung erfuhr auch die bislang für humanitäre Angelegenheiten und Krisenschutz zuständige Bulgarin Georgieva, die sich in Zukunft mit Budget & Humankapital auseinandersetzen darf. Kleinere Mitgliedsländer, die hochrangige Politiker entsandten, wurden mit Superressorts belohnt: Der estländische Ex-Premier Ansip Andrus bekam den Arbeitsbereich Digitaler Binnenmarkt zugewiesen, Valdis Dombrovskis, früherer Regierungschef Lettlands, den Euro, und Finnlands Jyrki Katainen das Thema Wachstum & Wettbewerb. Hingegen müssen sich weniger prominente Kommissare eben mit weniger begehrten Ressorts begnügen: Der Malteser Karmenu Vella mit Umwelt & Fischerei, der Grieche Dimitris Avramopoulos mit dem neu geschaffenen Ressorts Einwanderung & Inneres und der Portugiese Carlos Moedas mit dem Fachgebiet Wissenschaft & Innovation.

In etlichen Fällen ist die Besetzung schwer nachzuvollziehen: Warum beispielsweise die bislang primär mit Regionalentwicklung befasste Tschechin Vera Jourova Justiz-Kommisarin wurde und nicht der bisherige ungarische Justizminister Tibor Navracsics, der das Ressort Bildung & Kultur übernimmt, ohne davon eine besondere Ahnung zu haben – tja, das bleibt ebenso schleierhaft wie die Frage, warum anstelle des bereits eingearbeiteten Deutschen Günther Oettinger der Spanier Miguel Arias Canete für das Ressort Energie & Klimaschutz auserkoren wurde. Schließlich hatte es der gelernte Jurist, spätere Staatsanwalt und langjährige andalusische und EU-Parlamentarier in seiner Heimat lediglich bis zum Landwirtschaftsminister gebracht. Energiespezialist Oettinger hingegen wurde das Ressort Digitale Agenda & Telekom zugewiesen. Jean-Claude Juncker traf jedenfalls die prinzipielle Entscheidung, dass selbst alle acht Kommissionsmitglieder, die bleiben dürfen, neue Aufgaben übernehmen sollen. Die Schwedin Cecilia Malmström etwa, bisher für Innenpolitik verantwortlich, wird Handelskommissarin, der Kroate Neven Mimica wechselt von Verbraucherschutz zu Entwicklungszusammen-arbeit, und der Slowake Maros Sefcovic, bisher als einer der EU-Vizepräsidenten im Bereich institutionelle Beziehungen und Verwaltung engagiert, muss ebenfalls massiv umdenken: Er fungiert künftig als EU-Kapo für Verkehr & Transport.

Die Wackel-Kandidaten

Die Vermutung, dass es der künftigen „Regierung“ Europas am 1. November so ähnlich ergehen könnte wie einem Klassenvorstand und 27 Taferlklasslern am Schulbeginn, mag zwar etwas provokant klingen – ganz falsch ist sie gewiss nicht. Denn die alten und neuen Kommissare müssen sich durchwegs erst mit einem bislang unbekannten Arbeitsgebiet vertraut machen, was nach menschlichem Ermessen Monate dauern wird. Das bedeutet demnach: Vom Neustart in Brüssel sind nicht baldige Wunderdinge zu erwarten, und die vollmundigen Ankündigungen Junckers, dass sein neues Team „Europa einen neuen Anfang geben“ möchte, werden wohl noch einige Zeit benötigen, bis erste konkrete Schritte zu bemerken sind.

Die große Frage ist, ob die Kommission, die sich im EU-Parlament erst gestrengen Hearings unterziehen muss, überhaupt in geplanter Formation starten kann. Denn etliche der neuen Amtsträger werden bereits heftig hinterfragt, kritisiert und teilweise auch abgelehnt: Bedenken gibt es zum Beispiel gegen den EU-kritisch eingestellten Briten Jonathan Hill. Der Baron hat früher, wenn auch nur kurzzeitig, für die Finanzindustrie gearbeitet, wurde 2010 der für Schulen zuständige Unterstaatssekretär im Bildungsministerium und soll schon bald der optimale Mann ausgerechnet für Finanzstabilität, Finanzdienstleister und die Bankenunion sein. Für eine glatte Fehlbesetzung wird auch mancherorts der von Frankreich nominierte Pierre Moscovici gehalten. Unter Aufsicht des lettischen Oberkommissars Dombrowskis, der stets als Verfechter massiver Haushaltsdisziplin gegolten hat, soll der französische Ex-Finanzminister das Kapitel Wirtschaft, Zölle, Finanzen und Steuern abdecken – ob das angesichts der Tatsache, dass die Grande Nation ihr Budgetdefizit nie im Griff hat, gut gehen kann? Einigermaßen umstritten ist bei EU-Parlamentariern auch der Ungar Tibor Navracsics, weil er als magyarischer Justizminister für viele Entscheidungen stand, die ihnen aus demokratiepolitischer Sicht nicht koscher erschienen.  Zu klären wird auch sein, ob es sich schickt, dass der für Klimaschutz auserkorene Spanier Miguel Arias Canete laut Greenpeace-Kritik justament an Ölunternehmen beteiligt ist. Schließlich ist auch die frühere slowenische Minister-präsidentin Alenka Bratusek, für die in Brüssel das Dossier Energieunion reserviert ist, ins Kreuzfeuer von unschönen Mutmaßungen geraten: Sie soll ihre Nominierung für das Amt auf ziemlich unelegante Weise manipuliert und ihren durchaus tüchtigen Vorgänger Janez Potocnik brutal abgesägt haben.

Die „Kommission der Politik aus einem Guss“ (Copyright: Juncker) braucht also noch die Zustimmung des EU-Parlaments, was gewiss keine Formsache sein dürfte. Im Worst Case wird der Luxemburger Teamchef noch personelle Umstellungen vornehmen müssen, ehe seine Mannschaft eine riesige Herausforderung annehmen kann. Sie muss erstens beweisen, dass sie besser koordiniert und effizienter arbeitet als das derzeitige „Gremium“ von José Manuel Barroso – was noch kein Ding der Unmöglichkeit sein dürfte. Schwieriger wird schon der Nachweis, dass sie genügend Kompetenz und Erfahrung mitbringt um konkrete Maßnahmen zu schaffen – nicht bloß im Fall der neuen italienischen Außenbeauftragten Mogherini sind diesbezüglich riesige Fragezeichen angebracht. Und zu guter Letzt wird es darauf ankommen, ob die ziemlich logisch klingende Taktik Junckers, wie Europa zu reformieren wäre, auch aufgeht und seine Truppe am Feld tatsächlich erfolgreich agiert – und dabei genügend Tore erzielt …

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