Mittwoch, 24. April 2024
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Der wahre Staatsstreich in der Türkei geht schleichend vor sich

In der Türkei hat eine kleine Fraktion von Anhängern des im Exil lebenden islamistischen Sektenführers Gülen versucht, einen militärischen Staatsstreich durchzuführen, um die ebenfalls islamistische Regierung zu stürzen. Soviel gilt als sicher. Die unzähligen Ungereimtheiten und Widersprüche rund um diesen gescheiterten „Putsch Light“ werden vielleicht im Laufe der Zeit aufgeklärt oder auch nie erhellt werden und lassen jede Menge Spielraum für Spekulationen und Verschwörungstheorien. Das Schlimme daran ist, dass rund die Hälfte der türkischen Bevölkerung der Regierungspartei AKP und dem Staatspräsidenten Erdogan zutrauen, diesen Coup selbst organisiert oder zumindest davon gewusst und ihn zugelassen zu haben, um von ihren innenpolitischen Problemen abzulenken und ihre ohnehin fast uneingeschränkte Macht noch weiter auszubauen.

Tatsächlich ist Erdogan der große Nutznießer dieses dilettantischen Putschversuchs zur besten TV-Sendezeit. Seit Monaten wird seine Legitimität in Frage gestellt, weil sein Universitätsdiplom – eine unverzichtbare Voraussetzung für das Amt des Präsidenten – nicht aufzufinden ist, ebenso wenig wie Kommilitonen, die bestätigen würden, dass er tatsächlich ein Studium absolviert hat. Umstrittene Pläne wie die Einbürgerung der drei Millionen syrischen Flüchtlinge, anhaltende Korruptionsvorwürfe und die dramatische Sicherheitslage im Land, von der die zahlreichen tödlichen Bombenanschläge in den letzten Monaten zeugen, kratzten stark an seinem Image. Außenpolitische Krisen durch sein Verhalten wie ein Elefant im Porzellanladen (Russland, Syrien) haben der türkischen Wirtschaft, vor allem dem Tourismus, schwer zugesetzt. Die ständigen Reibereien mit der EU im Zuge der Flüchtlingskrise setzen ihn ebenso ständiger Kritik aus.

Putschversuch „ein Geschenk Gottes“ für Erdogan

Dieser gescheiterte Putsch ist daher – Originalzitat Erdogan – ein „Geschenk Gottes“. Mit einem Schlag kann er nun all diese Probleme in den Hintergrund rücken und sich als Held der Demokratie feiern lassen, obwohl er sich so lange versteckt gehalten hat, bis klar war, dass der Großteil der Armeeführung die Putschisten nicht unterstützt. Danach begann das, was für seine Gegner als eine billige Inszenierung erscheint. Statt wie ein Staatsoberhaupt und Oberbefehlshaber der Streitkräfte zu agieren und den Putschversuch mithilfe der Armee und der Polizei mit Leichtigkeit niederzuschlagen, hat er die Bevölkerung aufgefordert, auf die Straße zu gehen und sie als Kanonenfutter und menschliche Schutzschilder missbraucht.

Um eines klarzustellen: Die meisten der hartgesottenen Erdogan-Fanatiker haben mit der Verteidigung der Demokratie nichts am Hut. Ihnen geht es darum, ihren fanatisch verehrten „Messias“ zu schützen, damit er schon möglichst bald den ersehnten Gottesstaat herbeiführen und das Kalifat wieder ausrufen kann, um die Führung der islamischen Welt zu übernehmen. Deshalb hat man aus der Menge der Turban- und Taliban-Rauschebartträger, die dem Aufruf ihres Idols folgend auf die Straße gingen, auch keine Demokratie-Slogans hören können, sondern nur Allahu-Ekber-Gegröhle fanatisierter potenzieller Terroristen, die bereit sind, den Märtyrertod zu sterben, um ins gelobte Paradies mit all seinen „Fringe Benefits“ zu kommen.

Jeder fünfte unterstützt Terrororganisation IS

Erst Anfang der Woche wurde eine Umfrage veröffentlicht, wonach 20% der türkischen Bevölkerung die Terrororganisation Islamischer Staat (IS, ISIS, ISIL, Daesh, oder wie immer man sie nennen mag) unterstützt. Das ist das Ergebnis der jahrelangen schleichenden politischen Islamisierung des Landes. So ist es nicht weiter verwunderlich, dass diese Erdoganisten gestern einem Soldaten, der sich ergeben hatte, nach IS-Manier die Kehle durchschnitten haben, so wie sie es von ihren Vorbildern kennen und offenbar lieben. Zahlreiche weitere Lynchversuche wurden von Polizisten unterbunden, die die Soldaten vor dem blutrünstigen islamistischen Lynchmob retten mussten.

Schon seit langem kommen aus zahlreichen Orten des Landes Meldungen über Übergriffe dieser religiösen Fanatiker gegen modern gekleidete, kopftuchlose Frauen, Leute, die in der Öffentlichkeit Alkohol trinken, oder gemischte Gruppen von Männern und Frauen, manche womöglich Händchen (!) haltend. Schon jetzt führen sich diese Fundamentalisten auf wie die Sittenpolizei nach der iranischen Revolution, im Wissen, dass ihr Führer ihre Untaten billigt und sie keine echte Strafe befürchten müssen.

Seit Jahren wird die ohnehin auf schwachen Beinen stehende türkische laizistische Demokratie unterhöhlt. Mittlerweile wird im Wochentakt mindestens eine demokratische, laizistische, rechtsstaatliche Regelung über den Haufen geworfen, sei es durch ein Gerichtsurteil oder durch eine Fatwa irgendeines Imams oder einfach dadurch, dass sich die Machthaber über das geltende Recht hinwegsetzen – wer sollte sie daran hindern?

Westen mitverantwortlich für Demokratieabbau

Eine große Mitschuld an dieser schleichenden Abschaffung der Demokratie und des Laizismus, also der strikten Trennung von Staat und Religion, trägt der Westen, der die wahre Absicht Erdogans nicht gesehen hat oder nicht sehen wollte, weil die Liebe zum Geld – die Türkei ist ein großer Markt – alle demokratischen und menschenrechtlichen Bedenken überwog und weil man davon träumte, der islamischen Welt die Türkei als Vorbild einer moderaten islamischen Demokratie zu präsentieren. So hat man es nicht nur zugelassen, sondern aktiv unterstützt und bejubelt, dass die türkische Armee, die als Garant der laizistischen Republik galt, von Erdogan regelrecht kastriert wurde. Als er 2010 per Referendum die türkische Justiz in seine Gewalt brachte, standen die EU-Führer an der Spitze der Befürworter, weil sie sich von einigen unwesentlichen Details des Gesetzespakets mehr Demokratie für den EU-Beitrittskandidaten erhofften. Warnende Stimmen wurden ignoriert, weil man wohl glaubte, mit dem Möchtegerndiktator schon fertig werden zu können. So viel zur Menschenkenntnis, zum Urteilsvermögen und zum Weitblick unserer Spitzenpolitiker!

Den Großteil der Verantwortung für die chaotische Situation in der Türkei, die mit diesem Putschversuch einen vorläufigen Höhepunkt erreicht hat, trägt aber Erdogan selbst. Nur dank seiner aktiven Unterstützung und Komplizenschaft konnten die Gülen-Anhänger entscheidende Teile des Staatsapparats – das Innenministerium samt Polizei und Sicherheitsdiensten, das Justizwesen, die Streitkräfte – unterwandern und teilweise unter ihre Kontrolle bringen. Im Gegenzug dafür räumte die auf diese Weise zur „Parallelregierung“ aufgestiegene Gülen-Sekte mit hinterhältigen Intrigen alle wichtigen Gegenspieler Erdogans – vom ehemaligen Oppositionsführer Baykal über nicht genehme Richter und Staatsanwälte bis zur gesamten laizistischen Armeeführung – aus dem Weg. Als sich Erdogan durch die Macht dieser Parallelregierung schließlich selbst bedroht fühlte, begann er sie gnadenlos zu bekämpfen und alle „verseuchten“ Institutionen von den Gülenisten zu säubern. Das sollte in Kürze auch mit den Offizieren geschehen, die dem durch einen Putsch zuvorkommen wollten. 

Alles wird noch schlimmer 

Wie wird es nun weitergehen? Um das zu beurteilen, muss man keine hellseherischen Fähigkeiten haben, es genügt, auf die letzten Jahre zurückzublicken. Erdogan wird mit Sicherheit nicht plötzlich zum einenden Staatsmann mutieren, im Gegenteil. Er wird versuchen, den Rückenwind aus dieser Affäre zu nutzen, um das Ziel zu erreichen, das er seit Jahren skrupellos verfolgt: ein Präsidialsystem türkischer Art, das ihn auch offiziell zum unantastbaren Alleinherrscher macht, der er de facto schon ist – ein Staatsstreich im Hintergrund.

Schon am Morgen nach dem Putschversuch hat er Tausende Richter und Staatsanwälte verhaften oder absetzen lassen, Tausende Armeeangehörige wurden festgenommen, obwohl die meisten von ihnen am Putsch gar nicht beteiligt waren – Aktionen, um neben den Gülenisten auch die wenigen verbliebenen Atatürk-Anhänger in Justiz und Armee zu beseitigen, die sich diesem wirklichen, schleichenden Staatsstreich noch widersetzen könnten. Dass die Regierung in dieser aufgeheizten Atmosphäre jetzt auch die Wiedereinführung der Todesstrafe in den Raum stellt, erscheint in diesem Zusammenhang nur logisch. Ein blutiger Bürgerkrieg erscheint in letzter Konsequenz nicht ausgeschlossen. Es bleibt zu hoffen, dass den westlichen Entscheidungsträgern wenigstens jetzt ein Licht aufgeht – auch wenn es vielleicht schon zu spät sein könnte, um die Iranisierung der Türkei aufzuhalten.

 

Kommentar von Tansel Terzioglu

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