Samstag, 20. April 2024
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Tour d’Horizont mit Ex-Kanzler Helmut Schmidt

Vor einem ausgewählten Publikum sprach der ehemalige deutsche Bundeskanzler Helmut Schmidt dieser Tage in Hamburg über die Probleme Europas und die Arbeit der Geheimdienste. Am Ende verriet er seinen Zuhörern noch Einzelheiten über das Kommandounternehmen in Mogadischu im Oktober 1977 zur Befreiung der Geiseln an Bord der entführten Lufthansa-Boeing.

[[image1]]Er habe sich über US-Präsident Obama eine Meinung gebildet, möchte sie aber verschweigen. Den Geheimdiensten – gleich, ob aus dem In- oder Ausland – habe er nie vertraut. Und die Parteien beschäftigten sich in ihren Koalitionsverhandlungen mit zweit- oder drittrangigen Themen, während sie den wirklich entscheidenden Problemen, die allesamt mit Europa zu tun hätten, nicht genug Aufmerksamkeit widmeten. Der ehemalige deutsche Bundeskanzler Helmut Schmidt sprach mal Klartext, mal wählte er diplomatische Formulierungen. Doch seinen Zuhörern war jedes Mal klar, was der ehemalige Regierungschef meinte – egal, ob er es explizit oder implizit ausdrückte.

Helmut Schmidt sprach vor handverlesenen Gästen in Hamburg, darunter führende deutsche Medienvertreter und Banker, anlässlich der traditionellen Verleihung der Helmut Schmidt-Journalistenpreise. Wir waren – wie in den Jahren zuvor – dabei und folgten dem Ex-Kanzler auf seiner Tour d’Horizont.

„Geheimdiensten nie getraut“

Die spektakulären Schnüffel- und Ausspäh-Attacken des US-amerikanischen Geheimdienstes NSA überraschen Helmut Schmidt nach eigenen Worten keineswegs: „Ich habe immer das Gefühl gehabt, dass ich abgehört werde. Und deshalb brachte ich den Geheimdiensten nie großes Vertrauen entgegen. Unabhängig davon, ob es sich um russische, chinesische, amerikanische oder auch deutsche Dienste handelte“, sagte Schmidt in aller Offenheit. Er habe in seiner Amtszeit nie großen Wert auf die Berichte der Nachrichtendienste gelegt. „Oft erfuhr ich in den Medien mehr als in den Geheimdienst-Dossiers“.

Ob die deutsche Kanzlerin als Reaktion auf die Lauschangriffe auf ihr Handy eine Aussetzung der Verhandlungen über ein europäisch-amerikanisches Handelsabkommen fordern sollte, wurde der Ex-Kanzler gefragt. „Das sollte sie anderen überlassen“, lautete die Empfehlung des früheren deutschen Regierungschefs. Als er auf US-Präsident Obama angesprochen wurde, äußerte sich Schmidt so demonstrativ zurückhaltend, dass jeder im Festsaal des Hamburger Hotels Atlantic wusste, was er meinte, auch wenn er sich nicht äußern wollte. „Ich habe eine Meinung über Obama. Aber ich möchte sie verschweigen“.

Klartext wählte der Kanzler indessen, als er auf die aktuellen Koalitionsverhandlungen in Deutschland zwischen Christdemokraten und Sozialdemokraten einging: „Die angehenden Koalitionspartner beschäftigen sich eher mit zweit- oder drittrangigen  Fragen. Die wichtigen Themen aber betreffen alle Europa“, betonte Schmidt. Die Euro-Krise sei die Summe einer Vielzahl von Problemen, die differenziertes Handeln erforderten. Manche dieser Probleme machten ein sofortiges Handeln notwendig. Akut sei vor allem die erschreckend hohe Jugendarbeitslosigkeit in Spanien und Griechenland. „Wir brauchen ein sofortiges Programm zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit“, forderte Schmidt. Dieses Thema berge erhebliche soziale und gesellschaftliche Sprengkraft.

Andere Herausforderungen könnten mittel- bis längerfristig angegangen werden. Der Ex-Kanzler nannte in diesem Zusammenhang eine Änderung des Lissabon Vertrags. „Das wird lange Zeit brauchen. Und der Erfolg ist unsicher, weil es am Ende eventuell in einigen Staaten zu Volksabstimmungen kommen wird, deren Ausgang aus heutiger Sicht ungewiss ist“, sagte Schmidt. Wenig vertrauenserweckend sei ferner die politische Instabilität in manchen Euro-Staaten: „Was in Italien, Spanien und Griechenland geschieht, ist nicht einfach nachzuvollziehen“.

Europas Wohlfahrtsstaaten sind in Gefahr

Ein weiteres Problem, das vielfach noch unterschätzt werde, sei die längerfristige Gefährdung der Wohlfahrtsstaaten. Die europäischen Völker überalterten, die einen schneller, die anderen langsamer. „Ein Kind, das heute geboren wird, hat gute Chancen, 100 Jahre alt zu werden – früher eine ganz seltene Ausnahme“, sagte Schmidt, der kurz vor Weihnachten seinen 95. Geburtstag feiern wird. Eine entscheidende Herausforderung sei für Europa daher die Sicherung des Sozialstaates, was nicht zuletzt Mut zur Wahrheit erfordere: „Ein Mensch, der heute geboren wird, kann nicht mehr mit 65 Jahren in den Ruhestand gehen“.

Auch auf die Krise liberaler Parteien im Allgemeinen und der deutschen FDP im Besonderen ging Helmut Schmidt ein. Das liberale Prinzip finde sich heute in den Programmen aller demokratischen Parteien. Insofern bedürfe es keiner eigenen Partei mehr.

„Operation Feuerzauber“ in Mogadischu

Nach seinen Anmerkungen zu tagespolitischen Themen sprach Helmut Schmidt ausführlich über die schwersten Stunde seiner Amtszeit als deutscher Bundeskanzler: „Das war ganz ohne Frage die Entführung des Arbeitgeberpräsidenten Hanns-Martin Schleyer durch Terroristen und die spätere Entführung der Lufthansa-Maschine ‚Landshut’. Damals waren über 90 Menschen an Bord dieses Flugzeugs in akuter Lebensgefahr. Wir sind ein Riesen-Risiko eingegangen, als wir die Passagiere viele tausend Kilometer von Deutschland entfernt auf dem Flughafen von Mogadischu in Somalia befreien ließen“. Der Einsatzbefehl für die Antiterror-Einheit der GSG9 dürfte, das hörten die Gäste des Abends aus den Worten des Ex-Kanzlers, die mit Abstand schwierigste Entscheidung seiner Kanzlerschaft gewesen sein. „Ja, ich habe mit Toten gerechnet. Ich habe befürchtet, dass es bei diesem Einsatz zu Opfern kommen würde. Wir hatten unglaubliches Glück. Alle Passagiere überlebten diesen furchtbaren Terrorakt“. Zum glücklichen Ende der Befreiungsaktion („Operation Feuerzauber“) hätten auch die Engländer beigetragen. „Wenige Stunden vor dem Einsatz in Mogadischu traf ich den damaligen britischen Premierminister James Callaghan. Die Briten unterstützten uns, indem sie uns neue Blendgranaten zur Verfügung stellten, die wir in Deutschland in dieser Form noch gar nicht kannten“. Diese Granaten hätten Lichtblitze und einen Höllenlärm erzeugt.  Dadurch seien die Entführer wohl für ein paar Sekunden regelrecht paralysiert gewesen, was es den Einsatzkräften ermöglicht habe, die Türen des Flugzeugs zu sprengen und in den Passagierraum einzudringen.

Es war – einmal mehr – „Zeitgeschichte live“, mit der Helmut Schmidt an diesem Abend Ende Oktober seine Zuhörer faszinierte.
 

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