Dienstag, 19. März 2024
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Der EU-Kandidat Türkei auf dem Weg zum faschislamistischen Polizeistaat

Zigtausende friedliche Demonstranten, die von der Polizei mehr als 24 Stunden lang mit Wasserwerfern und Tonnen von Tränengas malträtiert wurden, zahlreiche Schwerverletzte, Fotos der rauchgeschwängerten Silhouette der Großstadt, die den Betrachter an Kriegsbilder aus Syrien oder Beirut denken lassen, abgeschaltete 3G-Netze, damit die Betroffenen angesichts einer Quasi-Nachrichtensperre die Wahrheit über die unglaublichen Vorgänge nicht im Internet mit dem Rest der Welt teilen können, Rauchgas in Krankenhäusern, Hotels und in der U-Bahn – nein, diese Szenen stammen nicht aus Peking, Moskau oder dem Gaza-Streifen, sondern aus einem Land, das der Europäischen Union beitreten möchte: aus der Türkei, genauer gesagt aus Istanbul.

[[image1]]Vordergründig begann alles mit einer harmlosen Protestkundgebung gegen die Zerstörung einer Parkanlage im Herzen Istanbuls, die als eine der wenigen verblieben Grünflächen einem weiteren gigantischen Shoppingzentrum geopfert werden sollte, von denen es in der Metropole am Bosporus wahrscheinlich mehr gibt als in New York oder Los Angeles. Doch der völlig unverhältnismäßig harte Einsatz der Polizei gegen die friedlichen Umweltschützer war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Zigtausende versammelten sich in kurzer Zeit, um den Demonstranten zur Seite zu stehen. Schließlich wurde daraus ein regelrechter Volksaufstand gegen das Erdogan-Regime.

In zahlreichen Städten im ganzen Land gingen die Menschen auf die Straßen, um ihre Solidarität mit der Protestbewegung in Istanbul zu bekunden. Natürlich kamen auch sie in den Genuss des Tränengases, das laut dem früheren türkischen Innenminister „biologisch“ und daher „harmlos“ ist. Mehr Glück hatten da die zahlreichen Demonstranten, die in mehreren europäischen Großstädten wie Paris, Köln oder Amsterdam spontan Solidaritätskundgebungen veranstalteten – sie leben in einer echten Demokratie, wo Tränengas nur im Extremfall eingesetzt wird.

Unmut großer Bevölkerungsschichten

Schon seit Jahren braut sich der Unmut großer Bevölkerungsschichten gegen die zunehmend autoritäre Regierungspolitik zusammen. Regierungschef Tayyip Erdogan,  der nach gewonnener Wahl versicherte, er werde ein Ministerpräsident für alle Türkinnen und Türken sein und nicht nur für jene, die ihn gewählt haben, hat sich nie an sein Wort gehalten und all jenen, die seine erzkonservativen und religiös motivierten Wert- und Moralvorstellungen nicht teilen, das Leben immer schwerer gemacht. Zuletzt erhitzten sich die Gemüter an einem teilweisen Alkoholverbot und einer Äußerung Erdogans, der den türkischen Staatsgründer Atatürk – ohne seinen Namen zu nennen – als Trunkenbold verspottet hatte.

Alle Zeichen deuteten schon darauf hin, aber mit diesen jüngsten Ereignissen, die noch immer anhalten, ist es eine Gewissheit geworden, die auch von seinen Unterstützern nicht mehr ignoriert werden kann: Erdogan ist völlig außer Rand und Band geraten. In seinem autoritären Machtrausch duldet der jähzornige Premierminister nicht die geringste Kritik, kein auch noch so zarter Widerstand ist ihm zu gering, um ihn nicht in Tränengas zu ersticken. Die Türkei ist Weltmeister im Einsatz von Tränengas gegen die Zivilbevölkerung – „Stuttgart 21“ spielt sich dort täglich ab.

Erdogans Gegner haben dem aus einer islamistischen Partei hervorgegangenen Politiker schon immer misstraut und ihm vorgeworfen, eine „geheime Agenda“ zu verfolgen. Er spiele nur Demokratie, bis er sich mächtig genug fühlt, um sein eigentliches Ziel, die Errichtung einer „Islamischen Republik Anatolien“ nach iranischem Vorbild durchzusetzen. Zahlreiche Maßnahmen der letzten Jahre scheinen den Kritikern Recht zu geben.

Europäische Union verhandelt seit 2004 mit der Türkei

Die Europäische Union, die seit 2004 mit der Türkei über einen EU-Beitritt verhandelt, hat eine erhebliche Mitschuld daran, dass es soweit kommen konnte. Sie verschließt seit Jahren die Augen vor Erdogans Missetaten gegenüber all jenen Bürgern, die ihm nicht huldigen, weil der schlaue Politiker ansonsten alles tut, was die EU von ihm verlangt, weil es ihm ohnehin in den Kram passt. Dem Westen ging es in erster Linie darum, dass die einst übermächtige Armee geschwächt wird und sich der Politik unterordnet, so wie es in einer normalen westlichen Demokratie üblich ist – ungeachtet der Tatsache, dass die Türkei noch weit von einer echten Demokratie entfernt ist und Erdogan und seine Mitstreiter alles andere als eingefleischte Demokraten sind.

Die Türkei soll laut westlichen Vorstellungen als Modell eines gemäßigten islamischen Staates für die islamischen Länder des Nahen Ostens und der arabischen Welt dienen. Dieser Versuch einer islamischen Demokratie aus der Retorte kann aber nur schiefgehen, so wie auch die geplante „Demokratisierung“ des Irak nicht funktionieren konnte. Spätestens seit der von der EU ausdrücklich geforderten, geförderten und heftig bejubelten letzten Verfassungsreform, mit der Erdogan auch den teilweise noch widerstrebenden Justizapparat völlig unter seine Kontrolle gebracht hat, war der Weg frei für eine Quasi-Diktatur, die einen Viktor Orbán oder Wladimir Putin vor Neid erblassen lassen könnte. Der nun aufkeimende „Türkische Frühling“ könnte diesem Ziel aber doch noch einen Strich durch die Rechnung machen.

Die EU-Verantwortlichen müssen endlich ihre Augen öffnen und erkennen, dass sie es mit einem machtgierigen Scheindemokraten zu tun haben, der ausnahmslos alle unterdrückt und terrorisiert, die sich ihm – seiner Politik und seiner Person – nicht unterwerfen, und der von der EU und ihren Grundwerten – Rechtsstaatlichkeit, Demokratie, Menschenrechte – nichts hält. Nicht umsonst bezeichneten sich Erdogan und Bascher al Assad bis vor Ausbruch der Syrien-Krise noch als „Blutsbrüder“.

Zwei Jahre ist es her, dass der türkische Premierminister in Ägypten – also an einem der Schauplätze des Arabischen Frühlings – gesagt hat: „Eine Regierung, die ihr eigenes Volk unterdrück und tyrannisiert, hat jegliche Legitimität verloren.“ Jetzt ist es höchste Zeit, dass die EU ihn an seine Worte erinnert.

Ein Kommentar von Tansel Terzioglu, EU-Infothek Korrespondent in Brüssel

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