Donnerstag, 5. Dezember 2024
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Hahn lässt Präferenz für Zoll-Union mit Türkei erkennen

EU-Kommissar Johannes Hahn mit Ömer Çelik / Bild © Yıldız Yazıcıoğlu [Public domain], via Wikimedia Commons
Trotz eines mehr als negativen Berichts zur aktuellen Situation in der Türkei, hält die EU die Verhandlungstüre für Ankara weiter offen. Kommissar Johannes Hahn lässt aber in einem Interview für EU-Infothek seine Präferenz für eine Zoll-Union (anstelle eines Beitritts) erkennen.

Der Titel des Dokuments ist eigentlich eine Themenverfehlung. Es nennt sich „Fortschritts-Bericht“ und betrifft den jährlich erhobenen aktuellen Status für Beitrittskandidaten, im aktuellen Fall für die Türkei. Genau genommen müsste dieses Dokument „Rückschritts-Bericht“ heißen. Kommt doch die EU-Kommission darin zur Ansicht, dass sich das Land „deutlich von der Europäischen Union“ entfernt. So wird unter anderem festgehalten, dass seit der Einführung des Ausnahmezustands mehr als 150.000 Menschen in U-Haft genommen wurden- Darunter über 150 Journalisten sowie eine große Anzahl von Schriftstellern, Menschenrechtsaktivisten, Anwälten. Zudem wurden auch noch 110.000 Beamte entlassen, die bürgerlichen und politischen Rechte deutlich eingeschränkt.

Trotzdem blieb Österreich mit seiner Forderung, die Beitrittsverhandlungen zu beenden, weitgehend allein. Wie es heißt, ist derzeit nur eine Handvoll von 27 EU-Mitgliedsländern (das Brexit-Land Großbritannien wird nicht mehr mitgezählt) auf der österreichischen Linie. Sowohl in der EU-Kommission wie auch im EU-Rat hält man aber weiter an der Linie fest, der Türkei die Wahrheit nicht ins Gesicht zu sagen. Nämlich, dass das Land unter den aktuellen Umständen definitiv kein Kandidat ist. Auch Erweiterungskommissar Johannes Hahn sind die Hände gebunden. Im Interview mit EU-Infothek lässt er nicht nur seine persönliche, kritische Einstellung aber auch erkennen, dass eine Zollunion eine Alternative wäre, um zu einer Lösung zu kommen. Die den Argumenten der Kritiker entgegenkommt, das NATO-Land aber auch bei der „EU-Stange“ hält.

EU sieht Fortschritte am Balkan …

EU-I: Die Kommission sieht gute Chancen, dass auch mit Albanien und Mazedonien Beitrittsverhandlungen aufgenommen werden können. Woran hakt es bei den Beitrittskandidaten am Balkan noch?

Hahn:

Wir haben mit den Länderberichten eine klare und umfassende Analyse des Vorbereitungsstandes der Westbalkan-Länder vorgelegt. Es gibt am Westbalkan einen generell positiven Trend, wenn auch das Reformtempo in den einzelnen Ländern unterschiedlich ist. Wie bereits in unserer im Februar veröffentlichten Strategie für den Westbalkan dargelegt, sind Fortschritte insbesondere in den Bereichen Rechtsstaatlichkeit, Kampf gegen Korruption, Förderung des Investitionsklimas  und des Unternehmertums sowie Verbesserung der nachbarschaftlichen Beziehungen notwendig. Letzteres gilt nicht nur für Kosovo und Serbien, sondern für alle Länder der Region.

Ursprünglich hieß es, dass es in dieser Legislaturperiode keine weiteren Beitritte zur EU mehr geben werde. Nun wird Serbien ein Beitritt überhaupt erst für 2025, also für die übernächste Legislaturperiode in Aussicht gestellt. Warum so spät?

Das in unserer Erweiterungsstrategie genannte Datum ist rein indikativ. Es liegt in der Hand jedes einzelnen Kandidaten- bzw. Bewerberlandes zu bestimmen, ob und wann die EU-Beitritts-Perspektive Realität wird. Der Beitrittsprozess ist auf Konditionalität aufgebaut: nur wenn die klar definierten Kriterien erfüllt und die notwendigen Reformen umgesetzt werden, ist ein EU-Beitritt möglich. Wir beurteilen die Fortschritte jedes einzelnen Landes individuell. Und es gilt auch weiterhin das Prinzip: Qualität vor Geschwindigkeit! Die Erweiterung des Westbalkan kann nur gelingen, wenn sie von beiden Seiten – also der EU und dem Westbalkan – als Gewinn empfunden wird. Sie ist auch im ureigensten Interesse der EU: es geht darum, Stabilität zu exportieren, um zu verhindern, dass wir Instabilität importieren. Es ist für die EU von größter Bedeutung, politisch stabile Verhältnisse, Rechtsstaatlichkeit, gutnachbarliche Beziehungen sowie ein angemessenen Wohlstandsniveau in unserer unmittelbaren Nachbarschaft zu haben. Die mehrfach bestätigte EU-Beitrittsperspektive, die mit beträchtlicher finanzieller Unterstützung einhergeht, ist unser Beitrag dazu, dass dies Realität werden kann. Nun liegt es an den Westbalkan-Ländern selbst, diese Chance zu nutzen.

Sie selbst haben sich immer wieder besonders für Mazedonien engagiert. Wie steht es derzeit um den Status dieses Beitrittskandidaten?

Die Kommission hat heute auf meinen Vorschlag hin beschlossen, die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der ehemaligen jugoslawischen Republik Mazedonien zu empfehlen. Diese Entscheidung ist vollauf gerechtfertigt. Das Land hat eine schwere politische Krise – mit EU- Unterstützung – überwunden und gute Fortschritte bei der Umsetzung wichtiger Reformen gemacht. Auch das Bemühen um gutnachbarschaftliche Beziehungen, etwa mit Bulgarien und Griechenland, aber auch mit anderen Westbalkan- Ländern ist mit der heutigen Empfehlung honoriert worden. Ich freue mich, dass ich zu diesem Meilenstein auf dem EU-Weg dieses Landes meinen  Beitrag leisten konnte. Ich bin am Mittwoch in Skopje um diesen Erfolg entsprechend zu würdigen.

Gibt es einen annähernden Fahr- und Zeitplan für die Beitrittsverhandlungen mit den Balkanstaaten?

Wir skizzieren in unserer im Februar vorgelegten Strategie die wichtigsten Reformschritte, welche die Westbalkan-Länder auf dem Weg zu einem Beitritt in nächster Zeit setzen müssen. Wir unterstützen diese Reformanstrengungen auch durch sechs Schwerpunktinitiativen. 2018 ist für die Westbalkan-Länder ein besonderes Jahr, mit zwei EU-Präsidentschaften, welche die Beitrittsperspektive des Westbalkan aktiv unterstützen. Es gibt eine Reihe von wichtigen, hochrangigen Treffen, wie den Westbalkan-Gipfel in Sofia im Mai, der sich mit der Umsetzung konkreter Projekte befassen wird und einen Gipfel im Juni in London, der besonders der Zusammenarbeit im Bereich Sicherheit gewidmet ist. Auch die österreichische Präsidentschaft wird ihren Beitrag zur Bekräftigung und Realisierung der EU-Perspektive des Westbalkan leisten. Die Länder der Region sollten diese historisch einmalige Gelegenheit nützen!

… und massive Rückschritte in der Türkei

Der Befund der Kommission zur Lage in der Türkei fällt sehr negativ aus. Welche Konsequenzen werden da endlich gezogen?

Die umfassende, faktische Analyse unseres Länderberichtes zeigt, dass sich die Türkei in den letzten Jahren mit großen Schritten von der EU entfernt hat und dass leider keine Änderung dieses Trends absehbar ist.  Die EU hat auf diese Entwicklung auch rechtzeitig reagiert: die Mitgliedstaaten haben beschlossen, dass es aufgrund der massiven Rückschritte im Bereich der Rechtsstaatlichkeit vorerst keine Öffnung weiterer Verhandlungskapitel geben wird. Außerdem wurde im Rahmen der Vorbeitrittshilfe (IPA) Zahlungen umgeschichtet bzw- auch gekürzt. So ist etwa für die  Türkei im Zeitraum 2018-2020 eine Reduzierung der Vorbeitrittshilfe  um 40% vorgesehen.

Erst jüngst hat Kommissionspräsident Juncker wieder Gespräche mit der Türkei geführt. Angesichts der Tatsache, dass sich die Erdogan-Türkei immer weiter von unserem Rechtsverständnis entfernt, wäre es da nicht angebracht, einen Schlussstrich zu ziehen, statt Scheinverhandlungen über einen Beitritt zu führen?

Die Türkei ist nach wie vor ein geostrategisch wichtiger Nachbar, mit dem wir die Kooperation in Bereichen gemeinsamen Interesses weiterführen sollten. Am Beispiel des Flüchtlingsabkommens kann man sehen, dass eine Kooperation sehr wohl Sinn macht und funktioniert, wenn sich beide Seiten an die getätigten Vereinbarungen und Bedingungen halten. Auch bin ich nach wie vor überzeugt, dass eine Modernisierung der EU-Türkei Zollunion auch der EU große Vorteile bringen würde.

Gibt es Überlegungen für ein alternatives Kooperationsangebot und wie könnte dieses aussehen?

Es liegt jetzt in erster Linie an den Verantwortlichen in der Türkei, klarzustellen, in welche Richtung sie gehen wollen. Sie betonen immer, dass sie nach wie vor an einem Vollbeitritt interessiert sind – aber dafür müssen eben die entsprechenden Kriterien erfüllt werden. Hier kann und wird es unsererseits keine Kompromisse geben. Der Ball liegt also bei der Türkei. Es sei an dieser Stelle auch daran erinnert, dass wir von den Mitgliedstaaten das Mandat erhalten haben, den Beitrittsprozess mit der Türkei ergebnisoffen zu führen.

Sie sind nun bereits einer der dienstältesten Kommissare. Wie sieht ihre persönliche, politische Lebensplanung aus?

Meine politische Lebensplanung, wie Sie es nennen, steht jetzt einmal bis zum 31.Oktober 2019. Dann endet unser Mandat. Das sind noch mehr als eineinhalb Jahre. In der Politik ist man gut beraten, nicht zu langfristig zu planen. Und meine Arbeit für das derzeitige Portfolio nimmt mich aufgrund der großen Herausforderungen so sehr in Anspruch, dass ich mich in der verbleibenden Zeit ganz auf diese Arbeit  konzentrieren möchte.

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