Im Jahr 2010 haben in Österreich 11.000 Ausländer um Asyl angesucht – heuer werden es fast sechs Mal so viele sein. Die Flüchtlinge aus Syrien, Afghanistan oder dem Irak sind für Österreichs Politik zu einem gewaltigen Problem geworden. Auch die Europäische Union steht vor einer riesigen Herausforderung.
Für die SOS Kinderdörfer ist es „eine skandalöse Situation“: Rund 800 Kinder und Jugendliche sind nach ihrer Flucht notdürftig in Traiskirchen untergebracht worden. Alle sind ohne Eltern oder sonstige Begleitpersonen ins Land gekommen, 20 von ihnen nicht einmal 14 Jahre alt. Die Organisation will jetzt 100 zusätzliche Plätze für minderjährige Flüchtlinge schaffen, was mittelfristig durch Spendengelder finanziert werden soll.
Das Rote Kreuz betreut derzeit 23 minderjährige Flüchtlinge in einem Wohnheim in Tirol. Ein Team aus pädagogischen Fachkräften, einer Deutschtrainerin sowie ehrenamtlichen Mitarbeitern hilft den jugendlichen Flüchtlingen, traumatische Erlebnisse zu verarbeiten. Die Einrichtung wird in Zusammenarbeit mit dem Land Tirol und dem Bundesministerium für Inneres betrieben.
Die Caritas wiederum beherbergt im Auftrag der Bundesländer AsylwerberInnen in 82 Häusern und setzt 800 hauptamtliche MitarbeiterInnen zur mobilen Betreuung solcher Quartiere sowie in ihren 31 Beratungsstellen ein. Erst kürzlich hat sie die ersten 30 Flüchtlinge aus Traiskirchen in ihrem „Stephanshaus“ in Horn untergebracht – inzwischen haben dort schon 100 Flüchtlinge eine neue Bleibe gefunden.
Die Volkshilfe Wien, die mit dem Fonds Soziales Wien eng kooperiert, bietet derzeit rund 330 Menschen in ihren drei Flüchtlingshäusern Unterkünfte und Betreuung. Überwiegend handelt es sich dabei um Familien mit Kindern, die keine Aufenthaltsberechtigung haben geschweige denn Geld oder medizinische Versorgung.
Das Krisenmanagement fehlt
Das sind allesamt sehr lobenswerte Einzelaktivitäten, doch in Summe ist es lediglich der sprichwörtliche Tropfen auf den heißen Stein: Es ist nämlich schon allein enorm mühsam, auf politischer Ebene Konsens herzustellen. So etwa dauerte es endlos, bis sich das Innenministerium mit dem Kärntner Landeshauptmann Peter Kaiser einigen konnte, wo eines der sieben österreich-weiten „Verteilerquartiere“ zur Erstprüfung von Asylanträgen errichtet werden solle. Nachdem die Gemeinde Ossiach auserkoren war, ging der Zirkus weiter, als auf dem Areal der Polizeikaserne in Krumpendorf 30 Zelte für 240 Menschen aufgestellt wurden – der Landes-Kaiser zeigte sich darob unglücklich, weil er Container bevorzugen würde. Ein anderes Beispiel: Es war eine schwere Geburt, bis das Land Tirol und die Marktgemeinde Vomp endlich bereit waren, die Kaserne „Frundsberg“ ab August vorerst für ein Jahr maximal 100 AsylwerberInnen zur Verfügung zu stellen – Platz wäre dort übrigens für 600, aber in diesem Fall wäre die Bevölkerung von Vomp wohl Sturm gelaufen.
Nicht nur in weißen Zelten, die starken Stürmen bisweilen nicht standhalten, und Kasernen leben unzählige Flüchtlinge derzeit, für die Österreich so etwas wie eine Insel der Seligen sein muss, sondern auch in Turnsälen öffentlicher Pflichtschulen, Jugendheimen, Flüchtlingsquartieren und Privatwohnungen sind sie untergebracht, und nicht wenige schlafen noch unter freiem Himmel – ohne Campingbett. Sie besitzen so gut wie nichts, sind in einem fremden Land auf fremde Hilfe angewiesen und haben obendrein keine Ahnung, wie ihre Zukunft aussieht. Diese Ratlosigkeit eint sie mit jenen, die für ihr Schicksal von entscheidender Bedeutung sind – der österreichischen Politik, die derzeit die Mammutaufgabe zu stemmen hat, weit mehr als 40.000 hierzulande aufgenommene Asylwerber zu betreuen.
Allein im ersten Halbjahr 2015 haben etwa 28.000 Menschen in Österreich um Asyl angesucht – so viele wie im gesamten Jahr 2014 – und täglich kommen bis zu 300 weitere hinzu. Die meisten sind aus den Kriegsgebieten in Syrien, Afghanistan und im Irak geflüchtet. Hunderte Kriegsflüchtlinge haben kein Dach über dem Kopf. Die dramatisch steigende Zahl an Asylsuchenden bringt ein Unterbringungsproblem mit sich, das die Politik nicht zu lösen im Stande ist. In den vergangenen zwölf Monaten konnten Bund und Länder zwar insgesamt 17.000 neue Unterkunftsplätze schaffen, sprich: die Kapazitäten verdreifachen (Bund) bzw. um zwei Drittel erhöhen, doch das reicht bei Weitem nicht. Ab Mai wurden an vier Standorten die heftig kritisierten Zelte aufgestellt, Anfang Juni appellierte das Innenministerium an die Bevölkerung, für die Aktion „Machbar in Not“ Unterkünfte bereitzustellen – und täglich kommen hunderte Flüchtlinge nach Österreich. Die ohnedies prekäre Lage spitzt sich weiter zu: Allein im niederösterreichischen Traiskirchen sind derzeit 3.000 Flüchtlinge untergebracht, von denen allerdings mehr als tausend kein Dach über dem Kopf haben, sondern bei brütender Hitze ebenso wie bei Regengüssen im Freien übernachten müssen.
Als zentral Verantwortliche bemüht sich Innenministerin Johanna Mikl-Leitner – so gut sie es eben kann – zwar redlich um Lösungen, doch sie wird von vielen im Regen stehen gelassen. Und die Position vom Kanzler Werner Faymann, der mit seinem Quotenvorschlag für alle Gemeinde ausgebremst wurde, befindet sich – in der Traufe. Seit Monaten wird rund um dieses Thema eine Art Rocky Horror Picture Show der grässlichen Art dargeboten, bei der seitens der Landeshauptleute, aber auch zahlreicher Bürgermeister viel Unwillen, Starrsinn und letztlich politische Ohnmacht demonstriert wird. Mit gutem Beispiel gehen lediglich die Landeskaiser Erwin Pröll (NÖ) und Michael Häupl (Wien) voran, auch ein paar Bürgermeister agieren vorbildlich. Der oberösterreichische Häuptling Josef Pühringer indes macht erst seit kurzem Dampf, weil ja demnächst Landtagswahlen sind. Von den übrigen Landeskapos, etwa jenen in Vorarlberg, Tirol oder Salzburg, wäre wesentlich mehr Engagement, Solidarität und Kooperationsbereitschaft zu erwarten.
Und noch eines: Die Politik, die sich auf Bundes- und Landesebene auf eine – großteils stark überforderte – Bürokratie verlässt, sollte besser die Expertise jener nutzen, die diesbezüglich die meisten Erfahrungen haben. Die so genannten NGO‘s, also die einschlägigen Nicht-Regierungsorganisationen, unterbreiten zwar laufend konstruktive, lösungsorientierte Vorschläge, finden allerdings zu wenig bis kein Gehör. Die verantwortlichen Politiker und Behörden spielen lieber weiter „Schwarzer Peter“ und schieben sich gegenseitig die Schuld an der Unterbringungskrise zu. Beispiel: Mitte Juni haben Amnesty International, Caritas, Diakonie und Rotes Kreuz einen „Nationalen Aktionsplan Asyl“ gefordert, der klare und standardisierte Abläufe und Zuständigkeiten für unterschiedliche Szenarien festlegt. Bis dato fehlt nämlich ein klares Konzept, sodass die Maßnahmen, die vorgeschlagen und umgesetzt werden, laut Diakonie-Direktor Michael Chalupka „immer nur bis zum nächsten Wochenende“ reichen.
Mehr Steuergeld muss her
Die wesentlichsten Vorschläge der Experten, die sich seit Monaten immer wieder zu Wort melden, lauten:
O Keine Zeltlager mehr, sondern Überstellung der Flüchtlinge in leerstehende öffentliche Gebäude oder Privatquartiere;
O sofortige Behebung von Missständen in den Massenquartieren wie Traiskirchen – dazu bedarf es eines Planungs- und Notfallmanagements, das laut Volkshilfe „nicht auf den Rücken der Betroffenen ausgetragen wird“,
O sofortige Öffnung des Arbeitsmarktes für Asylsuchende, die sich länger als sechs Monate in Österreich aufhalten um ihnen die Möglichkeit zu bieten, ihren Lebensunterhalt durch Arbeit zu verdienen,
O für minderjährige Flüchtlinge ohne Begleitung sollten die Kinder- und Jugendhilfe der Bundesländer die Verantwortung übernehmen, wobei gleiche Unterbringungsstandards wie für österreichische Kinder anzustreben wären sowie – last but not least –
O die Anhebung des Tagsatzes, der für die Unterbringung gezahlt wird, sowie anderer Mittel, um die Betreuung und Grundversorgung von schutzbedürftigen Menschen verbessern zu können.
Das liebe Geld ist naturgemäß der springende Punkt. Österreich erfüllt zwar – im Gegensatz zu anderen EU-Staaten – die auf internationalem Recht wie der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951, der EU-Charta der Grundrechte und der Europäischen Menschenrechtskonvention beruhende Verpflichtung, diese Menschen aufzunehmen und ihnen Schutz zu gewähren, in vorbildhafter Manier – die Kosten, die der Bund und die Bundesländer im ersten Jahr im Verhältnis 60 : 40 zu tragen haben (ab dann zahlt nur noch der Bund), sind jedoch beachtlich. Wie sieht der Status Quo aus?
Jene Flüchtlinge, die in einem so genannten organisierten Asylquartier untergebracht sind und sich selbst versorgen, haben Anspruch auf ein Verpflegungsgeld, das bei Erwachsenen 5,50 Euro pro Tag und bei Minderjährigen 121 Euro im Monat ausmacht. Die Quartiersbetreiber, der pro Flüchtling einen Tagsatz von 19 Euro erhalten, zahlen ihnen das Verpflegungsgeld aus. Weiters bekommen Asylwerber in der Grundversorgung ein monatliches Taschengeld von 40 Euro, Bekleidungshilfen in Form von Gutscheinen (150 Euro pro Jahr), und für Kinder und Jugendliche werden maximal 200 Euro pro Schuljahr als Kostenersatz gewährt. Jene Asylwerber, die in Privatwohnungen leben, bekommen einen maximalen Zuschuss von 240 Euro (Familie) bzw. 120 Euro (Einzelperson) für Miete und Betriebskosten – bei vier nicht miteinander verwandten Personen kommen demnach 480 Euro für die Unterkunft zusammen. Erwachsene haben in der Regel obendrein Anspruch auf ein monatliches Verpflegungsgeld in Höhe von 200 Euro, bei Minderjährigen sind es nur 90 Euro. Kärnten etwa zahlt niedrigere Sätze – nämlich 180 bzw. 80 Euro.
Die karitativen Organisationen wie etwa die evangelische Diakonie, deren Flüchtlingsdienst etwa das Salzburger Integrationshaus für 200 Menschen betreibt, fordern nunmehr eine Erhöhung des vorhin erwähnten Tagsatzes von 19 auf 25 Euro. Obendrein sollten die Kostenersätze für privat Wohnhafte an jene der organisierten Quartiere angepasst werden, damit sich Asylsuchende am Wohnungsmarkt selbst umschauen könnten. Schließlich wird auch der für Lebensunterhalt und Betreuung schutzbedürftiger Kinder und Jugendlicher verabreichte Tagsatz, der sich zwischen 39 und 77 Euro pro Tag bewegt, als zu niedrig bewertet – in der Jugendwohlfahrt, also für einheimische Kinder, seien nämlich täglich bis zu 140 Euro üblich. Derartige Forderungen nach mehr Steuergeldern, denen sich kürzlich auch der bereits fleißig wahlkämpfende Wiener Bürgermeister Michael Häupl anschloss, zielen darauf ab, die vielfach heftig als unzureichend kritisierte Betreuung von Flüchtlingen, insbesonders der UMF (unbegleitete minderjährige Flüchtlinge), zu verbessern. Den jungen Flüchtlingen, die ebenfalls ein monatliches Taschengeld von 40 Euro kriegen, Hilfe in jeder Hinsicht zu bieten, auch psychologische Unterstützung, so schwierig das schon auf Grund sprachlicher Probleme auch ist, und ihnen Hoffnung auf die Zukunft zu vermitteln, müsse das erklärte Ziel sein – schließlich habe sich die Republik mit der Unterzeichnung der Kinderrechtskonvention 1992 zur besonderen Schutzbedürftigkeit von Flüchtlingskindern bekannt.
Die Zelte spalten das Land
Die rund 200 auf Weisung der Innenministerin aufgestellten Zelte in Traiskirchen (NÖ), Krumpendorf (K), Linz, Salzburg. Eisenstadt und Thalham (OÖ) sogen landesweit für riesige Empörung. Ein vergleichsweise reiches Land wie Österreich, wo beispielsweise jährlich 157.000 Tonnen Lebensmittel im Müll landen, müsse doch in der Lage sein, selbst die jetzige Flüchtlings„lawine“ – so wie seinerzeit jene aus Ungarn oder später aus Ex-Jugoslawien – in den Griff zu bekommen und die Menschen, die aus höchster Not hier her gekommen sind, möglichst humanitär zu behandeln. Meinen die einen. Und zugleich beten die anderen, also die HC-Anhänger, ihre starre Abneigung gegen alles Fremde unentwegt wortreich herunter, verlangen Aufnahmestopps und würden wohl am liebsten alle Asylwerber möglichst rasch wieder abschieben.
Klar ist mittlerweile, dass die Art und Weise, wie mit Zuwanderern umgegangen wird, eine brisante gesellschaftspolitische Herausforderung darstellt. Die österreichische Migrationspolitik, die schon seit geraumer Zeit von politischen und legistischen Abwehrreaktionen geprägt wird, kann künftig nur bei steigender Solidarität erfolgreich sein. Es wird nicht angehen, dass in 68 Prozent der heimischen Gemeinden kein einziger Flüchtling aufgenommen wurde. Im Gegensatz zu anderen EU-Staaten – Bulgarien, Slowakei, Polen, die baltischen Staaten, aber auch Großbritannien, Irland, Finnland, Spanien und Portugal – hat sich Österreich bislang – so wie auch Italien, Griechenland, Deutschland oder Schweden – der Menschen aus Krisen- und Kriegsgebieten großzügig angenommen. Laut dem soeben veröffentlichten Jahresbericht des Europäischen Unterstützungsbüros für Asylfragen (EASO) hat es im Vorjahr EU-weit mehr als 660.000 Anträge auf internationalen Schutz gegeben, 43 Prozent mehr als 2013. Und allein im ersten Quartal 2015 nahm die Union laut ihrem Statistischem Amt 185.000 Asylbewerber auf – gegenüber dem Vorjahreszeitraum ein Plus von 86 Prozent. Österreich, mit einem 60-prozentigen Anstieg bei Asylanträgen schon im Vorjahr im Spitzenfeld positioniert, muss auch darauf gefasst machen, dass heuer insgesamt 60.000 Flüchtlinge betreut werden müssen. Auf das dem Innenministerium unterstellte Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, das am 1. Jänner 2014 als zentrale Verfahrens- und Ansprechstelle für Migranten die Kompetenzen von bislang 194 Behörden übernommen hat, warten jedenfalls stressige Monate.
Doch Solidarität hin, Humanität her: Es geht wirklich nicht an, dass manche EU-Länder unentwegt wie Musterschüler agieren und andere keinen Finger rühren und bei der Migrationswelle einfach wegschauen, Menschen in höchster Not also links liegen lassen. Ungarn beispielsweise hat angekündigt, keine Flüchtlinge zurücknehmen zu wollen, womit das Land die Spielregeln der aufrechten Dublin III-Verordnung glatt ignoriert. Ende Juni wurde dann in Brüssel der Plan von EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker diskutiert, dass jedes Land künftig verpflichtend eine bestimmte, von Wirtschaftskraft und Einwohnerzahl abhängige Flüchtlingsquote übernehmen solle – aber nix da: Zur großen Enttäuschung der österreichischen Regierung, die sich auf weitere Alpträume gefasst machen darf, einigte man sich letztlich darauf, dass alles auf freiwilliger Basis weiterlaufen solle. Nur in jüngster Zeit gelang bei der Frage, wo 20.000 Menschen aus Flüchtlingslagern außerhalb Europas Aufnahme finden sollen, auf eine halbwegs gerechte Lösung: Österreich wird 400 übernehmen. Und schließlich gelang es Innenministerin Mikl-Leitner, 500 Asylwerber zeitweise in ein Notquartier in der Slowakei auszulagern.
Fazit: Die Flüchtlingsfrage wird in rasantem Tempo zu, wie es Angela Merkel formuliert hat, „einer der größten Herausforderungen, vor denen die Europäische Union steht“. Ohne eine klare, möglichst einheitliche Strategie, ohne Bereitstellung beträchtlicher Steuergelder und ohne eine faire Verteilung der Menschen aus Kriegsgebieten auf die 28 Mitgliedsländer wird die EU Schiffbruch erleiden.