Donnerstag, 18. April 2024
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Sind Sie auch Charlie?

Was für eine Frage – na selbstverständlich sind wir alle in diesen Tagen ausnahmslos Charlies. Der blutige Anschlag auf die Redaktion der Pariser Karikaturenzeitschrift „Charlie Hebdo“ am 7. Jänner, bei dem 12 Menschen getötet wurden, hat weltweit Wut, Trauer und Solidarität ausgelöst – bei jedem vernünftigen Menschen.

[[image1]]Die dramatischen Ereignisse, mit denen drei wahnsinnige Terroristen in den darauf folgenden Tagen die Welt in Atem hielten, sorgten für unzählige Solidaritätsbekundungen – auf den Straßen, mit Schlagzeilen in den Printmedien, in den Sozialen Netzwerken. Unter dem Motto „Je suis Charlie“ („Ich bin Charlie“) wurde fast überall – auch in arabischen Blättern, sogar von islamischen Würdenträgern – gegen die grauenvolle Morde in der Redaktion und im jüdischen Supermarkt protestiert.

Am vergangenen Sonntag haben in ganz Frankreich fast vier Millionen Bürgerinnen und Bürger an Trauermärschen teilgenommen, in Paris angeführt von Francois Hollande und etwa 60 Staats- und Regierungs-chefs; in vielen Großstädten rund um den Globus – von Madrid und London über Moskau und Istanbul bis Beirut und Jerusalem – fanden ebenfalls Trauerumzüge, Mahnwachen und Schweigemärsche gegen die Gewalt in Frankreich statt. Der insgesamt 17 Mordopfer von Paris wurde auch vor dem Brandenburger Tor in Berlin gedacht, und am Wiener Ballhausplatz fanden sich immerhin, vom Bundespräsidenten abwärts, rund 12.000 Menschen ein um ihre Erschütterung zum Ausdruck zu bringen über das, was die Brüder Said und Chérif Kouachi sowie ihr Komplize Amedy Coulibaly angerichtet haben.

Mit einer großflächigen Berichterstattung über die Terror-Attacken sind etliche Medien ihrer gesellschaftspolitischen Verantwortung gerecht geworden: Der „Kurier“ wählte als Aufmacher „Stopp dem Hass“ und holte die Meinungen prominenter Autoren zum islamistischen Terror ein, die „Presse am Sonntag“ wiederum ließ unter dem Motto „Nicht mit uns“ 32 österreichische Muslime gegen eine radikale Islam-Interpretation Stellung beziehen. Die medialen Bemühungen, gerade angesichts der europaweit rasant zunehmenden Islamophobie den Lesern fundierte Informationen und Meinungen zu bieten, sind gewiss lobenswert – ob diese allerdings ausreichen, um den latenten Ängsten vor weiteren Attentaten Einhalt zu gebieten, ist mehr als fraglich. Und ob die gewaltige internationale Allianz der Charlies, die sich nicht unterkriegen lassen wollen, sondern – so wie nach 09/11 – der Gewalt zu trotzen entschlossen sind, nachhaltig etwas verändern wird, bleibt ebenfalls offen. Das Attentat auf das französische  Magazin in der Rue Nicolas Appert und das Gemetzel im jüdischen Supermarkt haben zwar überall eine engagierte Betonung von  vermeintlichen Selbstverständlichkeiten hervorgerufen: Alle treten plötzlich für Demokratie, Freiheit, Toleranz, Solidarität und Pressefreiheit ein; und alle lehnen Terror, Gewalt, Radikalismus, Extremismus, Fanatismus, Hass und Rache vehement ab. 

Aber denken, beispielsweise in Frankreich, Deutschland oder Österreich, wirklich alle so? Natürlich nicht. Die Saat von rechtspopulistischen    Politikern ist nämlich längst aufgegangen. Das explosive Dauergebrabbel von Top-Opportunisten wie Marine Le Pen, Geert Wilders und Konsorten à la HC Strache hat seine Wirkung auf dafür empfängliche Bevölkerungs-schichten beileibe nicht verfehlt – in Frankreich etwa mehr, in Österreich gottlob noch weniger. Die diffuse Angst vor dem Islam generell macht sich nicht zuletzt in Deutschland bemerkbar, wo seit kurzem die so genannten „Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes“ – kurz: Pegida – mit ihren Demonstrationen für Aufsehen und zugleich Abneigung sorgen.

Toleranz? Das ist für viel zu viele Europäer nach wie vor nicht mehr als eine leere Worthülse: Die unseligen, länderübergreifenden Debatten über Burka und Kopftuch sind, auch in Österreich, beileibe nicht verstummt, und die üblichen Ressentiments gegenüber anderen, den „Fremden“, nicht geringer geworden. Im Gegenteil: Die Distanz gegenüber Einwanderern, an denen oft bloß eine andere Hautfarbe irritiert, äußert sich an polternden Stammtischen häufig als bedrohliche Ausländerfeindlichkeit, die irgendwann zu Sprengstoff werden könnte. Pressefreiheit? Das wird nicht selten als etwas gesehen, was allein die Journalisten betrifft – die sollen sich gefälligst auch darum kümmern. Dass besonders kritische Redakteure wie der legendäre Alfred Worm oder der kürzlich verstorbene „News“-Aufdecker Kurt Kuch bei ihrer Arbeit ziemlich häufig nicht Anerkennung, sondern extremen Gegenwind zu spüren bekamen, spricht letztlich für die Tatsache, dass Pressefreiheit als wertvolles demokratisches Gut manchen Zeitgenossen herzlich egal ist.

Das Spiel mit dem Feuer

Wir Charlies, also die virtuelle, globale, friedvolle Anti-Terror-Armee, wir müssen leider zur Kenntnis nehmen, dass die vielzitierte „breite Masse“ der Bevölkerung etwa über Muslime und den Islam nicht mehr weiß als über Atomphysik oder Krebsforschung – also so gut wie nichts: Ziemlich viele  Mitbürger haben nicht die geringste Ahnung, wie Muslime „ticken“, was der Koran will oder mit welchen sozialen Problemen diese Menschen fertig werden müssen. Oder was beispielsweise Salafisten sind, warum diese ihr „heiliges Buch“ so aggressiv auslegen, was es mit dem Dschihad auf sich hat, und wieso es möglich ist, dass junge Mädchen mit Migrationshintergrund praktisch über Nacht zu radikalen ISIS-Kämpferinnen in Syrien werden. Auf diese Weise können jedoch die Barrieren zwischen den ach so perfekten Einheimischen und den suspekten Zuwanderern nicht abgebaut, sondern müssen automatisch unüberwindbarer werden, was ein ungestörtes Zusammenleben immer komplizierter macht.

Die Bedrohung durch terroristische Organisationen wie Al-Kaida oder ISIS, die international immer besser vernetzt sind und in einschlägigen Kreisen im Westen immer mehr bislang gut getarnte Sympathisanten finden, ist jedenfalls evident. Im Hinblick auf die aufgeheizte Stimmung und angesichts weiterer drohender Terroranschläge sollten zumindest eindeutige Provokationen jeglicher Art unterbleiben. Es wäre das Gebot der Stunde, nicht noch mehr unnötige Gräben aufzureißen. Auch wenn die Verbrechen an den Mitarbeitern von „Charlie Hebdo“ durch absolut nichts zu rechtfertigen und massiv zu verurteilen sind, darf in diesem Zusammenhang eine kritische Anmerkung nicht fehlen: Die bereits 1970 gegründete und 1992 wiederbelebte französische Satirezeitschrift hat sich stets das Recht herausgenommen, mit dem Bleistift alles, wirklich alles ausdrücken und überall, wirklich überall reinstechen zu dürfen. Schließlich war schon Kurt Tucholsky vor fast hundert Jahren überzeugt: „Satire darf alles“. Tim Wolff, Chefredakteur des deutschen Satiremagazins „Titanic“, definierte es kürzlich noch drastischer: „Satire ist ein Menschenrecht, ein Grundrecht – alle Menschen haben ein Recht darauf, verarscht zu werden“.

Unter dem Deckmantel der Pressefreiheit und mit dem Anspruch, die Leser zum Lachen zu bringen, machten sich die Zeichner von „Charlie Hebdo“ jahrzehntelang über alles lustig, was ihnen in die Quere kam: Die Politiker sowieso, aber gemäß ihrem programmatischen Antiklerikalismus auch über die Religionen – nicht nur über Jesus Christus, den Papst,  Rabbiner und Imame, sondern bevorzugt über den Propheten Mohammed. Dabei schossen sie gern auch mal über‘s Ziel und übertraten dabei, ohne Rücksichtnahme auf irgendwelche Medien-Paragraphen, auch die Grenzen des guten Geschmacks. In muslimischen Kreisen sorgte das jahrelang für Empörung. Dazu drei Beispiele: Im Februar 2006 war auf der Titelseite ein verzweifelter Mohammed abgebildet, der ausruft: „Es ist hart, von Idioten geliebt zu werden“.  Im Jahr 2012 war in einer Karikatur ein nackter Mohammed von hinten zu sehen, dessen Anus von einem Stern verdeckt war – dazu der Satz: „Mohammed. Ein Stern ist geboren“. Oder: Eine andere Zeichnung zeigte eine junge, nackte muslimische Frau, aus deren Hinterteil die Reste einer Burka herausragten – mit dem Text: „Ja zum Tragen der Burka – hinten drinnen“. Die Frage, ob das wirklich lustig ist, muss wohl jeder für sich beantworten. Amerikanische Medien wie die „New York Times“, die derartige Karikaturen prinzipiell nicht zu veröffentlichen bereit sind, stufen solche Arbeiten jedenfalls als „vulgär, rücksichtslos und kommerziell motiviert“ ein.

„Charlie Hebdo“ hat bislang sämtliche Anzeigen islamischer und sonstiger religiöser Organisationen abwehren, diverse Prozesse gewinnen und einen Brandanschlag im November 2011 überstehen können. Jetzt sind Chefredakteur Stéphane Charbonnier und die wichtigsten Mitarbeiter tot, doch das Geschäftsmodell der Satirezeitschrift lebt weiter. Die aktuelle Ausgabe des Magazins, das es bislang nur auf eine relativ bescheidene Druckauflage von 60.000 Exemplare brachte, sprengt alle Rekorde in der französischen Medienbranche: Gleich drei Millionen Hefte in 16 Sprachen sind in 25 Länder ausgeliefert worden – das Spiel mit dem Feuer geht in die nächste Runde…

 

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