Das laute Befeiern kleiner Teilerfolge wie des Van-der-Bellen-Siegs in Österreich nützt dem Projekt EU nichts mehr. Bei der Bundespräsidentenwahl stand ja – jenseits mancher Propaganda – nie ein Austritt Österreichs zur Debatte.
Hingegen dominieren vom Brexit-Referendum über die jüngste italienische Verfassungs-Abstimmung bis zu den europaweit immer EU-kritischer werdenden Meinungsumfragen und Stimmungen die wirklich negativen Signale für Europa immer mehr. Die EU-Spitze ist erkennbar ratlos und taumelt zwischen einem „Jetzt erst recht noch mehr Integration“ und einem depressiven „Nichts geht mehr“.
Gewiss: Von Italien bis Großbritannien waren es nationale Politiker, die versucht haben, den Europagedanken zur Absicherung der eigenen Popularität zu missbrauchen. Sie haben dabei nur übersehen, dass dieser Gedanke derzeit alles andere als eine Hilfe darstellt. Sie haben damit aber zugleich dem Europagedanken selbst schwer geschadet. Ähnliches bewirken auch viele andere Staatsführer, die ständig alles Schlimme der EU in die Schuhe schieben, für das sie in Wahrheit oft selbst verantwortlich sind, wie etwa die nationalen Schuldenberge.
Der Europagedanke ist aber dadurch heute selbst in jenen Bereichen schwer beschädigt, wo die Integration unbestreitbar notwendig und positiv ist. Diese Nationalegoismen auf EU-Kosten erklären freilich die geistige Krise Europas nur zum kleineren Teil.
Viel bedeutender ist, dass das Projekt EU selbst in ein tiefes inneres Sinn-Loch gestürzt ist, auch wenn das viele noch gar nicht begriffen haben. Während in Zeiten, da das Projekt noch EWG oder EG geheißen hat, die Zustimmung der Europäer dazu überwältigend war, ist dieser Konsens heute sehr überschaubar geworden. Heute herrscht europaweit ein Vakuum, wenn man zur Frage kommt: „Warum eigentlich Europa?“
Dabei war jahrzehntelang die Antwort völlig klar. Wir haben Europa für zwei alles überschattende Ziele benötigt:
o Erstens, um eine neuerliche verheerende Konfrontation Deutschland-Frankreich zu verhindern, die jahrhundertelang für so viele furchtbare Kriege gesorgt hatte.
o Und zweitens war der Zusammenschluss jahrzehntelang (neben der Nato, welche die militärische Einbindung der USA sicherstellte) absolut notwendig, um auch wirtschaftlich gemeinsam gegen die Herausforderung und Bedrohung aus dem kommunistischen Osten zu bestehen, deren friedlicher und für Westeuropa so erfolgreicher Ausgang ja keineswegs vorhersehbar gewesen ist.
Beide Hauptmotoren der europäischen Integration sind heute jedoch – zum Glück – zu bedeutungslosen Museumsstücken geworden. Es klingt daher wie eine steckengebliebene CD, wenn manche politische Propagandisten trotzdem noch immer vom „Friedensprojekt Europa“ schwärmen.
In beiden Fragen hat Europa Historisches geleistet – aber heute sind diese Fragen eben einfach Vergangenheit. Nur noch die Osteuropäer in der EU spüren ein wenig die sicherheitspolitische Restbedeutung des Schutzes vor Russland – aber auch sie sind heute primär deshalb Europäer, weil es sich finanziell für das Land auszahlt.
Seit Wegfall der beiden zentralen Gründungsmotive hat man den Eindruck, Europa fährt einfach nur noch wie ein ungeübter Radfahrer immer weiter – bloß um nicht vom Rad zu fallen. Aber ohne zu wissen, warum es das eigentlich tut und wie es weitergehen soll.
Europas heutige Realität
Die heutige EU-Realität hat inzwischen zwei ganz andere Hauptbedeutungen als die beiden ihrer Gründungsjahrzehnte. Eine sehr positive und eine sehr negative.
Erstens, die wirtschaftliche Integration. Der Binnenmarkt hat enorm viel zum enorm gewachsenen Wohlstand der Europäer beigetragen. Wenn Unternehmen, auch die kleinen, in voller Rechtssicherheit für einen einheitlichen Raum von 500 Millionen denken, produzieren und agieren können – statt für nur beispielswese 8 Millionen –, dann können sie Produkte und Dienstleistungen weit billiger und effizienter herstellen. Was nichts anderes heißt als: mehr Wohlstand für die Konsumenten. Dann schafft das auch eine schlagkräftige Exportwirtschaft. Was nichts anderes heißt als: einkommensstarke Arbeitsplätze.
Nur: Die Europäer sind sich dieser wichtigen und positiven Dimension der EU immer weniger bewusst geworden. Politik und Medien, Intellektuelle und Bildungssystem wissen kaum noch über wirtschaftliche Fragen und Zusammenhänge Bescheid. Statt dessen hat eine enorm effiziente sozialistische Propaganda mit großem Erfolg populistische Parolen verbreiten können. Deren Kern ist, wie böse doch Wirtschaft, Industrie und Konkurrenz im Grunde wären.
Diese linke Gehirnwäsche hat starke Wirkung auch auf den rechten politischen Rand Europas. Auch dort wird zunehmend wirtschaftsfeindlich gedacht und gehandelt. Von Gen- bis Hormon- bis Atom-Technologie sind viele global wohlstandsschaffende Entwicklungen zu absoluten Killerbegriffen in Europa geworden (zumindest in dessen deutschsprachigem Teil). Heute steht im Grund alles, was mit Wirtschaft und Fortschritt zu tun hat und was (auch) für Europa so wichtig ist, links wie rechts in zunehmend negativem Geruch.
Zweitens: Die zweite Dimension der heutigen EU-Realität hat Europa im Gegensatz zum Binnenmarkt hingegen tatsächlich kontraproduktiv und bürgerfeindlich gemacht. Die EU-Akteure haben sich nämlich immer stärker als überstaatliche Institution, als Superstaat, als Vereinigte Staaten von Europa zu etablieren versucht. Sie haben sich zu diesem Zweck völlig überflüssigerweise mit einem verfassungsartigen Vertrag, mit einer Grundrechts- und Sozialcharta und mit einer de-facto-Generalkompetenz ausgestattet, die noch dazu vom EU-Gerichtshof immer extensiver interpretiert wird.
Das klingt zwar vielleicht in manchen Ohren gut, das hat aber in Wirklichkeit zu einem immer größeren Allmachtsanspruch und einer üblen Regulierungswut der Brüsseler Institutionen geführt, was die EU bei immer mehr Menschen in Misskredit gebracht hat. Typisches, aber keineswegs einziges Beispiel ist etwa die Klimapolitik: Obwohl diese eine globale Frage ist, und obwohl die Umweltregeln globaler Abkommen eigentlich genauso gut national umgesetzt hätten werden können, hat die EU hier die totale Macht übernommen. Das Ergebnis sind unglaublich schikanöse Überregulierungen (von den Stabsaugern bis zur Glühbirne), die weit über das hinausgehen, was in allen anderen Staaten der Welt stattfindet. Genauso übel war die Entwicklung der EU zu einer Kontrollinstitution für Political correctness.
Als die Grünen von Europagegner zu Befürwortern mutierten
Man kann die gleiche Entwicklung auch ideologisch und parteipolitisch sehen: Während bis in die 90er Jahre Europa eindeutig ein bürgerlich, christdemokratisch und liberal dominiertes Projekt gewesen ist, sind seither die Linken, insbesondere die Grünen von Europagegner zu begeisterten Europäern mutiert. Das wäre an sich sehr positiv – hätte es nicht auch dazu geführt, dass Grüne&Co seither die EU auch von innen mit ihren Ideen durchfluten konnten und durchflutet haben. Nur: Warum sollen ideologische Vorstellungen, die in keinem Land funktioniert haben, plötzlich als europäisches Konstrukt funktionieren, wo sie noch dazu von den Menschen als doppelt fremd empfunden werden?
Gleichzeitig mit diesem Vordringen eines grünen Zeitgeistes in der EU wurden die liberalkonservativen Europäer innerlich immer morscher (Kommissionschef Juncker ist geradezu die Personifizierung dieser Entwicklung). Das christliche Fundament wurde überhaupt aus Europa hinausgedrängt (Siehe etwa die brutale Verhinderung des Italieners Buttiglione als EU-Kommissar). Jetzt herrscht in Europa genau das, was wir schon bei der österreichischen Wahl gesehen haben: Grün versus Blau. Überregulierung versus Europaskepsis. In die Irre gehende Machthaber versus enttäuschte Bürger.
Die Fehlentwicklung Europas kulminierte in den letzten Jahren in zwei Bereichen, wo sie besonders deutlich sichtbar geworden ist: in der Völkerwanderung und in der Euro-Politik. In beiden Fragen wurde nüchterne Rationalität durch eine geistig vor allem von den Grünen beeinflusste, aber heute auch in fast allen anderen Parteien aufzufindende schwärmerische Rettungspolitik ersetzt, die keine Sekunde über die generellen Konsequenzen nachdenkt. Griechenland und alle anderen Schuldnerstaaten sollten genauso gerettet werden wie jeder Afrikaner und Asiate, der (nach Löhnung von ein paar Tausend Euro an die Schlepper- und Schlauchbootmafia) auf einem Boot ein paar Kilometer Richtung Europa unterwegs gewesen ist.
Dafür hat man beispielsweise den verbindlichen Stabilitätspakt folgenlos 165 Mal gebrochen, und noch zahllose andere Rechtsgrundlagen wie etwa das No-Bailout-Gebot des EU-Vertrags. Dafür hat man monatelang jede Kontrolle der Außengrenzen abgeschafft und allein 2015 rund 1,7 Millionen Menschen (oder mehr, genau weiß man ja bis heute als Folge des Kontrollverlustes nicht, wie viele gekommen sind) ins schwer verschuldete europäische Wohlfahrtssystem hereingeholt.
Selbst wenn man solcherart etliche Menschen und etliche Länder gerettet zu haben glaubt, so hat man doch Europa dadurch so schwer beschädigt, dass es nun selbst unterzugehen beginnt. Denn dadurch wurde die Herrschaft des Rechts ausgehebelt. Eindeutige Pflichten von EU-Institutionen und Staaten sind seit 2010 zu unverbindlichen Regeln degeneriert. Damit war aber auch das Vertrauen der Bürger in sämtliche Fundamente dahin, also das, was noch die k. und k. Monarchie gewusst und aufs Wiener Heldentor geschrieben hat: „Iustitia fundamentum regnorum“ (Gerechtigkeit ist die Grundlage jeder Herrschaft). Heute setzt sich wieder Macht über das Recht hinweg.
Die allerjüngsten Etappen auf diesem unheilvollen Weg eines realitätsfernen schwärmerischen Europas waren erst in den allerletzten Tagen zu verbuchen:
o Die Weigerung einer Mehrheit der Italiener, Sanierungsreformen zu ermöglichen, die vorerst ohnedies nur die Verfassung und noch gar nicht direkt die unfassbare Verschwendung in dem Land verändert hätten. Dabei ist Italien in absoluten Zahlen Europas höchstverschuldetes Land (sieben Mal so viel Staatsverschuldung wie Griechenland). Dabei beheimatet es heute die weitaus meisten krachenden Krisenbanken des Kontinents.
o Und fast gleichzeitig hat die (ausgerechnet von einem Italiener geleitete!) Europäische Zentralbank ihre immensen Ankäufe von Regierungsanleihen noch weiter ausgedehnt. Diese Ankäufe dienen ausschließlich zur direkten und allen Vereinbarungen widersprechenden Finanzierung von schwer verschuldeten Staaten durch die Notenpresse, während die behauptete Wirtschaftsankurbelung durch Kredite den Banken durch immer extensiveres Risikoverbot de facto unmöglich gemacht worden ist.
Der Sieg der romantischen Gutmenschen über die seit langem vergeblich warnenden Vernunftmenschen führt immer weiter zum Untergang Europas.