Rechtssoziologische Erkenntnisse aus der Richterbestellung am Supreme-Court der USA
Einführung
Mit der Nominierung des konservativen Richters Brett Kavanaugh für den vakant gewordenen Sitz im US-Supreme-Court hat Präsident Donald Trump „eine der wichtigsten Amtshandlungen eines amerikanischen Präsidenten ausgeführt und einen zentralen Teil seines politischen Vermächtnisses bestimmt“.[1] Damit steht, nach dem 2017 nominierten Richter Neil Gorsuch, bereits der zweite von Trump nominierte konservative Höchstrichter vor seiner Bestellung als Mitglied des amerikanischen Höchstgerichts, was als „Triumph für die Republikaner“ bezeichnet wird.[2]
Das weltweite Aufsehen, das mit dieser Besetzung einer vakanten Stelle im Obersten Gericht der USA einhergeht,[3] überdeckt dabei völlig die damit verbundenen grundlegenden rechtssoziologischen und -theoretischen Fragen, die in diesem Zusammenhang um das Erfordernis einer Unvoreingenommenheit und Unparteilichkeit von (Höchst-)Richtern kreisen. Interessanterweise wird in diesem Zusammenhang in einschlägigen publizistischen Äußerung in europäischen Medien nicht (kritisch) darauf hingewiesen, wie bei einer solchen, vor allem politisch motivierten, Bestellung eines Richters dessen erforderliche Unabhängigkeit überhaupt entsprechend gewahrt werden kann.
Ganz allgemein muss die Auswahl von Richtern nach deren ideologischer Einstellung als problematisch angesehen werden. Es wird dabei ja nicht nur gezielt auf die Persönlichkeitsstruktur des Richters und dessen politische Gesinnung abgestellt, sondern von diesem auch gleichzeitig erwartet, dass er im konkreten Anlassfall auch dementsprechend urteilen wird. Im Gegensatz zu unteren Gerichtsinstanzen, wo ein solches richterliches Verhalten entsprechend auffallen würde, sind diejenigen Rechtssachen, die bis zum nationalen Höchstgericht gelangen, aber bereits dermaßen abstrakt formuliert, dass deren Begründung in die eine oder andere Richtung vorgenommen werden kann, ohne dass dem Richter dabei unmittelbar ein „parteiisches“ Verhalten vorgeworfen werden kann. Dies war in den USA in den letzten Jahrzehnten in einer Reihe gesellschaftspolitischer Fragen der Fall, wie zB im Falle der Beendigung der Rassentrennung (1953), der landesweiten Zulassung der Abtreibung (1973)[4] oder der Einführung der Homosexuellen-Ehe (2015).
Es soll daher nachstehend der Versuch unternommen werden, das amerikanische Bestellungsverfahren von Höchstrichtern kurz darzustellen, um danach auf die speziellen Besonderheiten des anglo-amerikanischen Rechtssystems einzugehen, die diesen Bestellungsmodus für die amerikanische Öffentlichkeit überhaupt erst akzeptabel und nachvollziehbar machen.
Trump nominiert mit Brett Kavanaugh erneut einen konservativen Höchstrichter
Im internationalen Vergleich haben amerikanische Höchstrichter eine außerordentliche Machtfülle, die unter anderem daraus resultiert, dass die amerikanische Verfassung nur sehr knapp und allgemein gehalten ist. Dementsprechend haben die neun Richter des Supreme-Court, die – nominiert vom jeweiligen Präsidenten der USA und vom Senat mit einfacher Mehrheit bestätigt – auf Lebenszeit gewählt sind, in der Beurteilung der von ihnen zu behandelnden Rechtssachen einen ungewöhnlich großen Interpretationsspielraum, den sie dementsprechend auch ausnützen. Sie entscheiden auch selbständig, welche Rechtssachen sie zur Überprüfung auf ihre Verfassungskonformität annehmen wollen oder nicht. Bei wichtigen gesellschaftspolitischen Fragen, die weder von der Exekutive, noch von der Legislative entsprechend gelöst werden können, obliegt es notgedrungen dem Supreme-Court, judikativ die entsprechende Richtung vorzugeben. Wenngleich diese Vorgangsweise aus Gründen der Gewaltenteilung bzw. der in den USA herrschenden „checks and balances“-Doktrin an sich bedenklich ist, wird sie, der Notwendigkeit gehorchend, nolens volens vorgenommen. Dass es dabei sehr stark auf die ideologische Prägung der Höchstrichter ankommt, ist offensichtlich und wird ganz bewusst in Kauf genommen.
Eingedenk solcher Überlegungen nominierte Präsident Trump am 9. Juli 2018 auch den deutlich konservativen bisherigen Bundesappellationsrichter Brett Kavanaugh für den durch den Rücktritt von Anthony Kennedy vakant gewordenen Sitz im US-Supreme-Court. Wenig später begann am 4. September das Anhörungs- bzw. Bestätigungsverfahren für Kavanaugh vor der Justizkommission des amerikanischen Senats, das direkt im Fernsehen übertragen wird und damit dem Kandidaten Gelegenheit gibt, seine Vorstellungen über die geplante Amtsführung publik zu machen, diese damit gleichsam für das amerikanische Publikum zu „personalisieren“ und für Recherchen zum „judicial behavior“ aufzubereiten.[5] Für dieses Hearing ist Kavanaugh von der republikanischen Partei des Präsidenten entsprechend intensiv vorbereitet worden, vor allem um die zu erwartenden „Fangfragen“ zu umgehen.
Wenngleich mit der Bestellung Kavanaugh’s die „ideologische“ Balance des Supreme Court erstmals seit dreizehn Jahren wieder verschoben wird, wird das Richtergremium dadurch an sich keine völlig andere ideologische Ausrichtung erhalten. Etwas anderes würde es allerdings sein, wenn Präsident Trump in den nächsten zweieinhalb Jahren auch noch die beiden ältesten, von Präsident Clinton ernannten progressiven Richter – die 85-jährige Ruth Bader Ginsburg und den 80-jährigen Stephen Breyer – durch konservative Richter ersetzen könnte. Damit wären wieder sieben der neun Höchstrichter von republikanischen Präsidenten ernannt worden, was von 1976 bis 2009 auch durchgehend so der Fall war. Man muss bis in die 1960-er Jahre des vorigen Jahrhunderts zurückgehen, um auf einen Supreme-Court zu stoßen, in dem von Demokraten ernannte Richter eine knappe Mehrheit bildeten.[6]
Unterschiedliche Stellung und Funktion der Judikative im kontinentaleuropäischen und angloamerikanischen System
Im gewaltenteilend strukturierten Rechtsstaat kontinentaleuropäischer Provenienz wird nicht nur von einem idealtypischen Verständnis eines stets objektiv urteilenden unbefangenen Richter ausgegangen, sondern dem Richter kommt auch lediglich eine reine Rechtsanwendungs- und keine Rechtsfortbildungsfunktion zu. Ganz grundsätzlich genießt die Judikatur eine völlig unabhängige Stellung, dh dass ein Gericht in seiner Entscheidungsfindung rechtsdogmatisch keiner wie immer gearteten Bindung durch dritte Justiz- und Verwaltungsorgane unterworfen ist. Im Besonderen betrifft das auch die Unabhängigkeit eines Gerichts hinsichtlich der Entscheidungsbegründung im Sinn einer verpflichtenden Berücksichtigung der Judikatur eines anderen Gerichts – vom rechtstatsächlichen Fall der Tendenz der Angleichung der Untergerichte an die „herrschende Judikatur“ der Höchstgerichte abgesehen.
Im Gegensatz dazu ist das angloamerikanische Recht durch das sogenannte „stare decisis“[7] – ein richtergetragenes Präjudizienrecht („reasoning from case to case“) – geprägt, sodass es ua die kontinentaleuropäische Unterscheidung in Rechtsprechung und Rechtssetzung nicht kennt und daher in gewissen Fällen auch von einer erlaubten Rechtsfortbildung durch den Richter zur Erreichung einer größeren „Einzelfallgerechtigkeit“ ausgeht. Der angloamerikanische Richter ist daher in seiner Entscheidungsfindung viel freier als der europäische Richter, dem eine rechtsfortbildende Funktion, aufgrund gewaltenteilender Überlegungen, an sich untersagt ist. Allerdings unterliegt der angloamerikanische Richter dabei – wiederum völlig unterschiedlich zum kontinentaleuropäischen Richter – einer Reihe von „judicial restraints“, die ganz unterschiedliche Ursprünge haben können, nämlich solche inter-institutioneller oder persönlicher Art.[8] Einige dieser Fälle eines „judicial restraint“ haben zur Folge, dass sich der Richter in seiner eigenen Entscheidungsfindung an der Entscheidung und auch Begründung eines anderen Richters bzw. Gerichts verpflichtend zu orientieren hat. Dieser „judicial restraint“ kann in mehrfachen Konfigurationen auftreten und hat auch unterschiedliche Wurzeln, was seine Entstehung betrifft. Sind diese aber einmal offengelegt, dann kann Richterverhalten mit einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit auch vorhergesagt werden.
Die „judicial behavior“-Doktrin
Weiß man den ideologischen Hintergrund und die politische Ausrichtung eines Richters korrekt zu deuten, dann kann mit Hilfe rechtssoziologischer Methoden dessen Entscheidungsverhalten, zumindest in Extremsituationen, entsprechend antizipiert werden. So wird im Rahmen der im anglo-amerikanischen Rechtskreis weit verbreiteten – im kontinental-europäischen Rechtsbereich aber nahezu unbekannten – Disziplin der „Richterverhaltens-Forschung“ („judicial behavior“)[9] versucht, das Entscheidungsverhalten von Richtern zu analysieren, wobei davon ausgegangen wird, dass Richter, die eine Rechtssache an sich nach „objektiven“ (normativen) Kriterien zu entscheiden hätten, ihre subjektive Prägung und das daraus resultierende „Vorverständnis“ für die Aufbereitung einer Rechtssache nie ganz verleugnen können.[10] In der Erkenntnis, dass auch Richter durch subjektive Werthaltungen und Attitüden geprägt sind, leugnen die Anhänger dieser methodischen Ausrichtung das Platon‘sche Ideal eines – jedweder eigenen Ideologie entrückten – weisen „Richter-Königs“, der, völlig unabhängig von subjektiven Elementen, allein aufgrund der objektiven Gegebenheiten entscheidet. Gerade letztere Fiktion liegt aber der kontinental-europäischen Rechtsdogmatik zugrunde, die von diesem Idealtypus eines Richters ausgeht und lediglich eng definierte „Befangenheitsgründe“ von Richtern als deren Ausschlussgründe vom Verfahren kennt. Eine diesbezügliche richterliche „Befangenheit“ hat aber mit dem (unbewusst) geprägten Vorverständnis eines Richters, das diesen in einer Rechtssache eben so und nicht anders entscheiden lässt, nicht das Geringste zu tun und kann iSe konkreten „Richterverhalten“ empirisch nachgewiesen werden.
„Judicial behavior“-Untersuchungen amerikanischer Rechtssoziologen weisen diesbezüglich auf signifikante Korrelationen zwischen ideologisch konservativen oder progressiven Richtern und deren Entscheidungsverhalten zB in Sexualstrafsachen, oder aber auf signifikante Gemeinsamkeiten im Urteils- und Strafzumessungsverhalten von Verkehrs(straf-)Richtern hin, je nachdem, ob sie Führerscheinbesitzer sind oder nicht. Die Liste solcher Beispiele ließe sich beliebig fortsetzen. Nur nebenbei sei in diesem Zusammenhang erwähnt, dass sich naturgemäß auch in Europa ähnliche Fallkonstellationen ereignen, die aber nicht durch eine etablierte rechtssoziologische Methodik, wie zB eine „judicial behavior“-Technik, untersucht und aufbereitet werden.
Exemplarisch sei in diesem Zusammenhang lediglich das vor einigen Jahren von einem höchstrichterlichen Senat in Österreich gefällte Urteil erwähnt, das einem korrekt auf der Autobahn fahrenden Pkw-Lenker, der mit einem „Geisterfahrer“ kollidierte, ein Mitverschulden anlastete, da er offensichtlich „nicht auf Sicht“ gefahren sei. Wäre dies nämlich der Fall gewesen, hätte er die Gefahr zeitgerecht erkennen, dementsprechend auch ausweichen und damit eine Kollision vermeiden können. Eine nähere Auswertung dieses völlig realitätsfremden Judikats hat dann allerdings ergeben, dass keines der (älteren) Senatsmitglieder über einen Führerschein verfügte (sic). Irgendwelche methodischen Konsequenzen wurden aus diesem singulären Vorfall aber nicht gezogen.
Die hoch entwickelte „judicial behavior“-Technik[11] hat in den USA dazu geführt, dass sich eine Reihe von Anwaltskanzleien auf die Erforschung der Lebensläufe gewisser Richter spezialisiert haben und mit den dabei gewonnenen Erkenntnissen des Öfteren auch in der Lage sind, deren Entscheidungsverhalten entsprechend korrekt vorherzusagen. Wenngleich diese Vorgangsweise keineswegs wissenschaftlichen Kriterien einer exakten Prognostik standhält, zeigt sie doch auf, dass es in bestimmten Fällen eine signifikante Korrelation zwischen der persönlichen Prägung eines Richters und dessen beruflichen Entscheidungsverhalten gibt.
Weitere rechtssoziologische Ansätze zur Aufdifferenzierung und Prognostizierung von Richterverhalten
Neben dem „judicial behavior“-Ansatz hat die amerikanische Rechtssoziologie aber auch noch andere einschlägige Ansätze zur Aufdifferenzierung von Richterverhalten entwickelt, wie zB den (a) „judicial restraint“, den (b) „judicial activism“ und den (c) „judicial dialogue“. Einige Elemente davon lassen sich auch, mehr oder weniger entsprechend angepasst, in der europäischen judikativen Praxis nachweisen.
Ad (a) Unter „judicial restraint“ werden in der einschlägigen anglo-amerikanischen Literatur die Fälle „richtlicherlicher Zurückhaltung“ untersucht, die zum einen auf den vorstehend erwähnten „judicial behavior“-Ansatz zurückgehen, zum anderen aber darin bestehen, dass der Richter bewusst von seinen eigenen subjektiven Attitüden Abstand nimmt, dafür aber Begründungen und Würdigungen übernimmt, die „fremdbestimmt“ sind. Diese „Fremdbestimmung“ kann zum einen in einem System des „institutional self-restraint“ aus institutionellen Zwängen der Gerichtsbarkeit resultieren – so orientiert sich zum Beispiel ein unterinstanzlicher Richter in der Regel am Entscheidungsverhalten der Revisionsinstanz – andererseits aber auch aus Formen eines „personal self-restraint“ hervorgehen, in dem sich zum Beispiel ein Richter in seiner Entscheidungsbegründung sachlogischen Argumenten eines anderen Richters bzw. Gerichts anschließt. Dabei kann es sich sowohl um Plausibilitäts- bzw. Sachrationalitätsgründe als auch um Gründe der besonderen „Fallgerechtigkeit“ (im „stare decisis“-System) u.a.m. handeln.[12] Sachrationalität liegt in diesem Zusammenhang immer dann besonders vor, wenn es sich um rechtsanaloge Übernahmen aus verwandten und strukturell gleichförmigen juristischen Sachgebieten handelt.
Einen Sonderfall des institutionellen „judicial restraint“ im europäischen Kontext stellt zum Beispiel die Verpflichtung nationaler Gerichte dar, Vorabentscheidungen vom Gerichtshof gem. Art. 267 AEUV dann einzuholen, wenn es sich um eine entscheidungserhebliche Frage handelt und von vorlageberechtigten bzw. -verpflichteten nationalen Gerichten die „act claire“-Theorie nicht angewendet, sondern der Gerichtshof um die Auslegung der interpretationsoffenen unionsrechtlichen Bestimmung gebeten wird. Vorabentscheidungen stellen darüber hinaus aber auch Formen eines „judicial dialogue“ dar, da sie ein enges Dialogverhältnis zwischen dem vorlegenden nationalen Gericht und dem Gerichtshof begründen.[13]
Eine ganz spezielle Form einer solchen „richterlichen Zurückhaltung“ im Sinne der Hintanstellung einer eigenen Judikaturlinie zugunsten der Übernahme einer Fremdjudikatur, existiert im kontinentaleuropäischen Rechtskreis vor allem im Rahmen des Europäischen Wirtschaftsraumes (EWR), indem die Richter des EFTA-Gerichtshofs im EWR gehalten sind, sich an die (frühere) Judikatur des EuGH so weit als möglich anzunähern, um im EWR – einem „Assoziationsverhältnis“ von drei EFTA-Staaten mit der Europäischen Union – „binnenmarktähnliche“ Verhältnisse zu schaffen.[14] Art. 6 des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum (1994)[15] bestimmt diesbezüglich folgendes: „Unbeschadet der künftigen Entwicklungen der Rechtsprechung werden die Bestimmungen dieses Abkommens, soweit sie mit den entsprechenden Bestimmungen des Vertrags zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und des Vertrags über die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl sowie der aufgrund dieser beiden Verträge erlassenen Rechtsakte in ihrem wesentlichen Gehalt identisch sind, bei ihrer Durchführung und Anwendung im Einklang mit den einschlägigen Entscheidungen ausgelegt, die der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften vor dem Zeitpunkt der Unterzeichnung dieses Abkommens erlassen hat“.
Ad (b) Was den „judicial activism“[16] betrifft, so verfallen manche US-amerikanischen Gerichte – im Versuch, ein Rechtsgebiet geschlossen und konsistent zu judizieren – in eine zunächst „überschießende Judikatur“ dahingehend, dass sie, über den einzelnen Fall hinausgehend, allgemeine Prinzipien in ihrer Rechtsprechung zu entwickeln beginnen, die sie aber dann, zB auf Grund fehlender politischer Akzeptanz, wieder Schritt für Schritt zurücknehmen müssen. So etwas findet aber auch im europäischen Kontext statt. Ein klassischer Anwendungsfall dieses „judicial activism“ mit nachfolgendem „self-restraint“ war zB die überschießende Judikatur des EuGH im Bereich der Sozialpolitik, indem er den Austausch von bzw. Zugang zu medizinischen Dienstleistungen im Binnenmarkt zu „dynamisch“ reglementierte und aufgrund des Widerstands in den Mitgliedstaaten diese Judikatur in der Folge dann aber wieder abschwächte.[17]
Einen weiteren Schulfall für den Versuch der Erzwingung eines „judicial restraint“ des EuGH in seinen „judicial activism“-Bestrebungen stellte die Forderung der britischen Delegation auf der Regierungskonferenz zur Ausarbeitung des Vertrages von Amsterdam (1995-1997) dar, die aus ihrer Sicht ausufernde Judikatur des EuGH in Sachen Staatshaftung – vor allem durch den Ansatz der Haftung bereits „ex tunc“ und nicht erst „ex nunc“ – durch eine entsprechende Novellierung des Primärrechts des EG-Vertrages zurückzubinden. Interessanterweise wurde von einem solchen Versuch seitens der EU-Mitgliedsstaaten als „Herren der Verträge“ aber bewusst Abstand genommen.[18]
Ad (c) Unter einem „judicial dialogue“ wird die enge Zusammenarbeit von Höchstgerichten sowohl auf horizontaler, als auch auf vertikaler Ebene verstanden. Auf horizontaler Ebene handelt es sich dabei um die Abstimmung der judikativen Tätigkeit zwischen den Richtern nationaler Höchstgerichte bzw. der internationalen Gerichte untereinander, auf der vertikalen Ebene hingegen um die Vernetzung der Rechtsprechung internationaler Gerichte mit nationalen (Höchst-)Gerichten. Dieser von der angloamerikanischen Lehre zur besseren Abgleichung von Judikaturlinien geforderte und sowohl horizontal als auch vertikal praktizierte Dialog findet ansatzweise auch im kontinentaleuropäischen Kontext statt.[19]
Institutionalisiert ist der vertikale Dialog in Europa vor allem in der speziellen Einrichtung des vorerwähnten Vorabentscheidungsverfahren gem. Art. 267 AEUV sowie der neuen Gutachtenskompetenz des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) auf der Basis des Protokolls Nr. 16 zur EMRK[20]. Was hingegen den horizontalen Dialog betrifft, so beschränkt er sich auf periodische Treffen der Präsidenten der einzelnen Höchstgerichte auf europäischer Ebene.
Schlussbetrachtungen
Wie die vorstehenden Bemerkungen zeigen, unterscheidet sich das angloamerikanische Justizsystem markant von seinem europäischen Pendant, vor allem, was die Rekrutierung und die ideologische Ausrichtung seiner Höchstrichter betrifft. Der Umstand, dass diese in den USA in einem rein politischen Auswahlverfahren zwischen Präsident und Senat nominiert und anschließend auch bestellt werden, belegt eindeutig den Umstand, dass man sich dabei durchaus bewusst ist, dass die kontinentaleuropäische Annahme eines nicht subjektiv geprägten und daher allein nach objektiven Kriterien entscheidenden Richters eine reine Fiktion ist. Wenngleich auch in Österreich die Auswahl und Bestellung von Höchstrichtern durch Legislativ- und Exekutivorgane erfolgt – der Präsident, der Vizepräsident, sechs weitere Mitglieder und drei Ersatzmitglieder des Verfassungsgerichtshofs werden von der Bundesregierung, drei Mitglieder und zwei Ersatzmitglieder vom Nationalrat und drei Mitglieder und ein Ersatzmitglied vom Bundesrat vorgeschlagen; die Ernennung erfolgt durch den Bundespräsidenten – so geschieht dies vorrangig nach qualitativen Kriterien und nicht auf der Basis von deren ideologischer und parteipolitischer Zugehörigkeit.
In diesem Zusammenhang sind die rechtssoziologischen Ansätze zur Aufdifferenzierung und Prognostizierung richterlicher Verhaltensweisen im angloamerikanischen Rechtskreis von grundlegender Bedeutung und sollen zumindest vergleichsweise auch in der kontinentaleuropäischen Rechtsdogmatik zur Kenntnis genommen werden. Wenngleich dies auch zu keinem Paradigmenwechsel hinsichtlich der Stellung und Funktion der Judikative im rechtsstaatlichen und gewaltenteilenden System europäischer Prägung führen wird, würde es die Nachvollziehbarkeit so mancher judikativer Entscheidungen erleichtern und für die Öffentlichkeit verständlicher machen. An der Erkenntnis subjektiver Prägungen und ideologischer Ausrichtungen einzelner Richterpersönlichkeiten führt einfach kein Weg vorbei.
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[1] New York Times, zitiert nach Marti, W. J. Amerikas mächtige Verfassungshüter, NZZ vom 6. September 2018, S. 15.
[2] Marti (Fn. 1), a.a.O.
[3] Vgl. Winkler, P. Das Spektakel beginnt. Die Bestätigung eines Supreme-Court-Richters wird in Washington als Drama inszeniert, NZZ vom 6. September 2018, S. 3.
[4] Vgl. Roe v. Wade (1973).
[5] Siehe dazu nachstehend.
[6] Marti (Fn. 1), a.a.O.
[7] Vgl. dazu allgemein Powell, L. F. (Jr.), Stare decisis and judicial restraint, Washington and Lee Law Review, Vol. 47. Spring 1990, S. 281 ff.
[8] Vgl. dazu allgemein Ferejohn, J. A. – Kramer, L. D. Independet Judges, Dependent Judiciary: Institutionalizing Judicial Restraint, New York University Law Review, Vol 77, October 2002, S. 962 ff.; vgl. dazu auch die nachstehenden Bemerkungen.
[9] Vgl. dazu allgemein Segal, J. A. Judicial Behavior, The Oxford Handbook of Political Science (2011).
[10] Vgl. dazu allgemein Voeten, E. Judicial Behavior on International Courts, The European Court of Human Rights, Working Paper, George Washington University (2005).
[11] So wurde zB mit Hilfe des PC-basierten „Wordscore-Programms“ die ideologische Positionierung der Entscheidungen des Supreme Court minutiös recherchiert und aufbereitet; siehe McGuire, K. T. – Vanberg, G. Mapping the policies of the U. S. Supreme Court: data, opinions, and constitutional law (2005).
[12] Vgl. dazu allgemein Ferejohn/Kramer (Fn. 8), a.a.O.
[13] Siehe dazu nachstehend.
[14] Baudenbacher, C. The Relationship Between the EFTA Court and the Court of Justice of the European Union, in: Baudenbacher, C. (ed.), The Handbook of EEA Law (2016), S. 179 ff.
[15] ABl. 1994, L 1, S. 3 ff.
[16] Vgl. dazu beispielsweise Obermaier, A. J. Fine-tuning the Jurisprudence: The ECJ’s Judicial Activism and Self-restraint, Working Paper Series, Institute for European Integration Research, Working Paper No. 02/2008, September 2008, S. 1 ff..
[17] Vgl. dazu die Judikatur des EuGH in den Rechtssachen C-158/96, Raymond Kohll/Union des Caisses de Maladie, Slg. 1998, S. I-1931 ff. und C-120/95, Nicolas Decker/Caisses de Maladie des Employés Privés, Slg. 1998, S. I-1831 ff.; vgl. dazu Obermaier (Fn. 16), S. 4 ff.
[18] Vgl. Hummer, W. – Obwexer, W. Vom “Gesetzesstaat zum Richterstaat” und wieder retour? Reflexionen über das britische Memorandum über den EuGH vom 23. Juli 1996 zur Frage der “korrigierenden Kodifikation” von Richterrecht des EuGH, Europäisches Wirtschafts- & Steuerrecht 10/1997, S. 295 ff.
[19] Vgl. dazu allgemein Jacobs, F. G. Judicial Dialogue and the Cross-Fertilization of Legal Systems: The European Court of Justice, in: Symposium: Judicialization and Globalization of the Judiciary, 38 Texas International Law Journal, 2003, S. 547 ff; vgl. dazu auch Baudenbacher, C. The EFTA Court – an Example of Judicialisation of the International Economic Law, European Law Review, Issue 6, 2003, S. 880 ff.; Baudenbacher, C. The EFTA Court: An Actor in the European Judicial Dialogue, Fordham International Law Journal, Vol. 28, January 2005, Number 2, S. 353 ff; Baudenbacher, C. The EFTA Court, the CJEU, and the Latter’s Advocates General – A Tale of Judicial Dialogue, in: Arnull/Eckhout/Tridimas (eds.), Continuity and Change in EU Law. Essays in honour of Sir Francis Jacobs (2008), S. 90 ff.; Skouris, V. The Role of the Court of Justice of the European Union (CJEU) in the Development of the EEA Single Market: advancement trough Collaboration between the EFTA-Court and the CJEU, in: EFTA Court (ed.), The EEA and the EFTA Court (2014),m S. 3 ff.
[20] Siehe Hummer, W. „Judicial dialogue“ zwischen EGMR und nationalen Höchstgerichten, in: Heid/Stotz/Verny (Hrsg.), Die Rechtsprechung der EU-Gerichte in Wissenschaft und Praxis, FS Manfred Dauses (2014), S. 167 ff.