Dienstag, 30. April 2024
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Was hat die russische Exklave Kaliningrad mit den Sanktionen der EU gegen die Russländische Föderation zu tun?

Suwalki-Lücke, Bild © User:NordNordWest, CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons (Ausschnitt) / Geostrategy map, Bild © Popik, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons (Ausschnitt)
Einführung

Im Zuge der Untersuchung der Auswirkungen der bisherigen sechs „Sanktionspakete“ der EU gegen Russland[1] kamen dem Autor immer wieder Bedenken, ob und wie diese denn auf die russische Exklave Kaliningrad und deren Außenwirtschaftsbeziehungen Anwendung finden würden. Vor allem die von der Europäischen Kommission zunächst nicht weiter problematisierte Frage, ob denn der Transit sanktionierter Waren von Russland nach der russischen Ostsee-Exklave Kaliningrad – durch das Staatsgebiet von Litauen – ebenfalls den Sanktionsregelungen unterfällt, oder nicht, stand dabei im Mittelpunkt der Überlegungen. Handelt es sich bei einem Versand von Waren von Russland nach Kaliningrad tatsächlich um einen verbotenen Exportakt Russlands, oder kam es dabei nur zu einem Transit iSe „Versendung“ derselben zwischen zwei russischen Gebieten, der keinen „Export“ Russlands – in einen Drittstaat – darstellt? Ist diesbezüglich die bloße Versendung von Gütern von einem Gebietsteil eines Landes in einen anderen tatsächlich einem „Exportakt“ gleichzusetzen oder nicht?

Interessanter Weise wurde diese grundlegende Frage in den einschlägigen Dokumenten, mit denen die bisherigen sechs „Sanktionspakete“ näher determiniert und ausgestaltet wurden, nicht näher geregelt, sodass sich Litauen, dessen Staatsgebiet unmittelbar an die Exklave Kaliningrad angrenzt, dazu verpflichtet sah, den russischen Transitverkehr für bestimmte sanktionierte Produkte zu sperren. Diese kamen von Russland über Weißrussland (Belarus) und die „Suwalki-Lücke“[2] nach Litauen und von dort nach Kaliningrad. Die Kommission reagierte erst spät auf diese „Transit-Sperre“ und forderte Litauen dazu auf, diese wieder aufzuheben, was in der Folge auch geschah.

Um diese komplexe Situation zu veranschaulichen und besser verständlich zu machen, soll zunächst die geopolitische Situation der russischen Exklave Kaliningrad verdeutlicht werden. Danach sind die unterschiedlichen Positionen Litauens und der Kommission in der Frage des Transits russischer Waren nach Kaliningrad kurz darzustellen, um dann auf das Problem der nunmehrigen Abrechnung der Transitgebühren einzugehen.

  1. Die russische Ostsee-Exklave „Kaliningrad“

Kaliningrad fußt historisch auf dem Fundus von Königsberg, der Hauptstadt der preußischen Provinz Ostpreußen, die ab 1871 zum Deutschen Reich gehörte. Im April 1945 wurde diese aber in der Schlacht von Königsberg von der Roten Armee erobert. In der Folge annektierte die Sowjetunion im April 1946 das nördliche Ostpreußen samt Königsberg, benannte die ehemals deutsche Stadt in Kaliningrad um und ernannte sie zur Hauptstadt der gleichnamigen Oblast (Gebiet/Region).

Seit dem Zerfall der Sowjetunion (UdSSR) im Jahr 1990 ist die Oblast Kaliningrad eine Exklave Russlands, die im Süden an Polen und im Norden und Osten an Litauen grenzt und dementsprechend auch über keine direkte Landverbindung mit dem russischen Mutterland verfügt. Kaliningrad ist mit seinen über 15.000 km2 fast so groß wie die Steiermark und beherbergt aktuell ca. 940.000 Personen. Die Exklave hat für Russland eine große militärische Bedeutung: so ist ua die russische Ostseeflotte hier stationiert, ebenso wie auch, und zwar seit 2016, atomwaffenfähige Iskander-Raketen. Dazu hat Moskau 50.000 Soldaten in Kaliningrad stationiert. Ein Großteil der Oblast ist auch militärisches Sperrgebiet.[3]

Die meisten von Kaliningrad ausgehenden Verkehrsströme zielen in Form von Transitverbindungen durch Litauen und Belarus auf das russische Kernland. Aufgrund dieser Situation, einer von visumpflichtigem Ausland umgebenen Exklave, ist der (Personen)Verkehr mit dem restlichen Russland sehr erschwert, vor allem aber dadurch, dass nur die Hälfte der Einwohner des Gebiets überhaupt einen Reisepass besitzt, und damit in der Lage ist, ein Visum zu beantragen.[4]

Was den Eisenbahnverkehr betrifft, so verkehren im Personenverkehr mit dem russischen Kernland Transitzüge, die ohne Anhalten Litauen durchqueren und dafür 19 Stunden benötigen.[5] Dieser Verkehr, für den ein Transitvisum erforderlich ist, beruht auf einem Abkommen zwischen der EU und Russland aus dem Jahr 2002.[6] Im Güterverkehr mit Russland verkehrten vor dem Angriff Russlands auf die Ukraine im Februar 2022 ca. 100 Güterzüge im Monat.

Am 17. Juni 2022 stoppte Litauen, unter Berufung auf das vierte Sanktionspaket der EU vom 15. März 2022,[7] die Beförderung von Stahl und Metallprodukten auf der Bahn, und verhängte ab 9. Juli ein weiteres Transitverbot für Zement, Alkohol und andere Produkte. Am 10. August sollte ein weiteres Transitverbot für Kohle und andere feste fossile Brennstoffe und am 5. Dezember ein solches für russisches Öl folgen.[8] Auf Drängen der Kommission musste Litauen diese Blockade aber am 14. Juli 2022 wieder beseitigen.[9]

Was den Straßenverkehr betrifft, so benötigen Russen sowohl für die Route nach Moskau, als auch nach St. Petersburg, eigene Transitvisa.

Was den Schiffsverkehr in der Ostsee betrifft, so besteht zum einen der im November 1901 eröffnete Kaliningrader Seeschifffahrtskanal, der die Stadt Kaliningrad mit dem 50 km entfernten Baltijsk (Pillau) und der Ostsee verbindet; zum anderen besteht eine visumfreie Fährverbindung von Baltijsk nach St. Petersburg, die allerdings 48 Stunden für eine einfache Fahrt benötigt.

  1. Die Erstreckung des Sanktionsregimes auch auf die Transitstrecke

Bezüglich der Frage, ob die Sanktionsbeschlüsse der EU gegen Russland auch jene Waren betreffen, die vom Mutterstaat Russland in die Exklave Kaliningrad mit der Eisenbahn versendet werden, schwelte längere Zeit ein stiller, aber hartnäckiger Streit. Da die Transitstrecke (auch) durch zwei EU-Staaten, nämlich Polen und Litauen, führt, wendete sich Litauen im Juni 2022 an die Kommission und erbat eine Weisung darüber, ob es das Sanktionsregime auch auf der Transitstrecke exekutieren soll. Aus Brüssel kam diesbezüglich ein „Ja“: auch die Transitstrecke sei davon betroffen. Allerdings hatte diese hochpolitische Entscheidung „die oberste Etage der Kommission nicht erreicht und es ist unklar, ob Falken in der Kommission, in Absprache mit der litauischen Regierung Fakten schaffen wollten.“[10] Der Gouverneur von Kaliningrad, Anton Alichanow, sprach in diesem Zusammenhang davon, dass es sich dabei um einen „technischen Fehler“ der Kommission handle.[11]

Dementsprechend wendete Litauen die Sanktionen auch auf der Transitstrecke an und verhängte am 18. Juni 2022 ein Durchfuhrverbot für zivile Güter – wie Kohle, Stahl, Metalle, Baumaterialien (zB. Holz oder Zement)[12], Hochtechnologieprodukte – aber auch für militärische oder „dual-use-Güter“, die auch einer militärischen Nutzung zugeführt werden können, über den Eisenbahnkorridor durch sein Territorium. Rund drei Güterzüge pro Tag sind davon betroffen und befahren das Eisenbahnnetz Litauens, das in russischer Breitspur angelegt ist.

Die Sanktionen betreffen insgesamt rund die Hälfte des gesamten Warentransports nach Kaliningrad. Die Versorgung Kaliningrads könne aber nach wie vor auf dem Seeweg erfolgen, auf dem derzeit zwei russische Schiffe zwischen St. Petersburg und Kaliningrad hin und her pendeln.[13]

Aufgrund wütender Proteste und Drohungen aus Moskau, Gegenmaßnahmen zu ergreifen,[14] versuchte die Kommission einzulenken und erstellte am 13. Juli 2022 neue Leitlinien[15] bezüglich des Transitverkehrs zwischen Russland und Kaliningrad. Darin verfügte die Kommission, dass Russland grundsätzlich auch jene zivilen Güter mit der Eisenbahn in seine Exklave Kaliningrad transportieren dürfe, die auf EU-Sanktionslisten stehen. Untersagt sind allerdings Straßentransporte dieser Güter von russischen Speditionen durch EU-Territorium, und damit auch auf dem Landweg durch Litauen. Die Güter dürfen auch nur in den bislang üblichen Mengen befördert werden, wobei als Vergleichswert die durchschnittlichen Transitmengen der letzten drei Jahre herangezogen werden.[16] Auch muss es sich dabei um die Befriedigung einer Nachfrage nach „essenziellen Gütern“ am Zielort handeln.[17] Durch diese Regelung soll verhindert werden, dass Russland auf Sanktionslisten stehende Güter über Kaliningrad in andere Länder versendet und damit das jeweilige Sanktionsregime umgeht.

Nicht betroffen von der Auseinandersetzung um den Gütertransit ist der Personenverkehr von und nach Kaliningrad. Auch diese (Korridor)Züge müssen über litauisches Territorium fahren, doch können die Passagiere an den litauischen Bahnhöfen derzeit weder ein- oder aussteigen.

Die litauische Ministerpräsidentin Ingrida Šimonytė erklärte dazu, dass von einer „Blockade Kaliningrads“ überhaupt nicht gesprochen werden kann. Es seien lediglich Sanktionen für gewisse Güter in Kraft getreten, die auf dem Landweg nicht über EU-Territorium transportiert werden dürften. Andere Güter und der Personentransport seien nicht betroffen. Im Übrigen handle es sich nicht um eine unilaterale Aktion Litauens, es gehe vielmehr um Sanktionen, die auf EU-Niveau beschlossen worden seien. Im Übrigen wisse man aus den Erfahrungen, die man mit dem Kreml sowohl zu Zeiten der sowjetischen Annexion des Baltikums, als auch in den nachfolgenden Jahren des nationalstaatlichen Wiederaufbaus gemacht habe: Wenn man klein beigebe, werde dies unausweichlich als Schwäche interpretiert.[18]

  1. Probleme bei der Abrechnung von Transitgebühren

Rund um die Transitproblematik deutet sich eine weitere Krise zwischen Litauen und Russland an, die zwar nichts mit dem Transport an sich, aber mit dessen Bezahlung zu tun hat. Nachdem die litauische Staatsbahn, auf massiven Druck Russlands und nach dem Einlenken der EU, den Güterverkehr wieder aufgenommen hat, kündigte die Šiaulių Bankas, das einzige litauische Geldinstitut, über das die Transitgebühren bisher abgerechnet wurden, die Beendigung ihres Russlandgeschäfts für September 2022 an. Auf die Rüge des Kreml-Gesandten Sergey Ryabokon, dass dies ein weiterer Schlag Litauens zur Behinderung des Warentransits sei, erklärte der zuständige litauische Verkehrsminister Marius Skuodis, dass der Staat die Šiaulių Bankas in keiner Weise zur Abrechnung der Transitgebühren zwingen könne, da es sich dabei um eine rein bankinterne Entscheidung gehandelt habe. Im Übrigen müsse auch geklärt werden, ob Litauen die Transitleistung als staatliche Aufgabe einstufen könne, oder nicht.[19]

  1. Fazit

Betrachtet man die unterschiedliche Einschätzung Litauens und der EU hinsichtlich der Notwendigkeit bzw. Zulässigkeit der Anwendung der EU-Sanktionen gegen Russland auch auf den Transitverkehr Russlands mit seiner Exklave Kaliningrad, dann lässt sich Folgendes feststellen. Obwohl die genaue Begründung Litauens für die Unterstellung des Transitverkehrs zwischen Russland und der Exklave Kaliningrad unter das Sanktionsregime der EU gegen Russland nicht eindeutig feststeht, wird von osteuropäischen Diplomaten darauf verwiesen, dass dies in den Rechtstexten ausdrücklich so vorgesehen sei. Im Übrigen sei es politisch falsch, dem russischen Druck jetzt nachzugeben.[20]

Auf der anderen Seite wird aber argumentiert, dass der Warenverkehr Russlands mit seiner Exklave Kaliningrad, obwohl er über zwei EU-Mitgliedstaaten abgewickelt werden muss, keinen „Import in die EU“ darstellt, sondern es sich dabei lediglich um den Verkehr zwischen zwei Gebietsteilen Russlands handle, wie dies auch vom deutschen Bundeskanzler Olaf Scholz festgestellt wurde.[21] Sollte sich daher in den Rechtstexten der EU-Sanktionen gegen Russland kein spezieller Hinweis auf den Transitverkehr zwischen Russland und seiner Exklave Kaliningrad finden – was mehrheitlich so behauptet wird – dann würde sich die Erstreckung des Regimes der zwischenzeitlich sieben EU-Sanktionen[22] auf den Transitverkehr rein begrifflich nicht anbieten. Die vorstehend erwähnte Begründung der Kommission vom 13. Juli 2022, dass Litauen seine Blockade russischer Waren aufheben müsse, folgte aber nicht dieser Argumentation, sondern war vielmehr der Überlegung geschuldet, dass Russland ansonsten seine Drohungen wahrmachen und damit große ökonomische Probleme verursachen würde[23].

__________________________

[1] Hummer, W. Von den „smart sanctions“ der EU gegen Russland anlässlich der Okkupation der Krim (2014) zu den Sanktionen wegen der kriegerischen Aggression gegen die Ukraine (2022), EU-Infothek, vom 16. August 2022, S. 1 ff..

[2] Bei der „Suwalki-Lücke“ handelt es sich um ein 70 km langes Stück der polnisch-litauischen Grenze, die gleichzeitig das Kaliningrader Gebiet von Weißrussland (Belarus), und damit von russischem Einflussgebiet, trennt. Der Name stammt von der nahe gelegenen polnischen Provinzstadt Suwalki.

[3] Vgl. allgemein Holbreich, P. Kaliningrad im Wandel (2004).

[4] Vgl. Oblast Kaliningrad, Wikipedia, Kap. 7.3.

[5] Vgl. Angerer, J. Exklave Kaliningrad trotzt den Sanktionen, Der Standard, vom 25. Juli 2022, S. 4.

[6] Vgl. Jh, Krieg in der Ukraine: Folgen für den Bahnbetrieb, in: Eisenbahn-Revue International 8-9/2022, S. 418.

[7] Hummer, Von den „smart sanctions“ der EU (Fn. 1), S. 5; vgl. auch Opielka, J. Ein sinnvoller Rückzieher, Die Furche, vom 21. Juli 2022, S. 5.

[8] Vgl. Koch, M. – Müller, M. Kein Wodka für Kaliningrad? Spannungen zwischen EU und Russland nehmen zu, Handelsblatt, vom 9. Juli 2022.

[9] Vgl. dazu nachstehend.

[10] Vgl. Kornelius, S. Litauen stellt sich gegen die EU-Kommission, SZ.de, vom 10. Juli 2022.

[11] Veser, R. Die EU stellt Litauen im Streit mit Russland bloß, faz.net, vom 8. Juli 2022.

[12] Im Rahmen vor allem des vierten Sanktionspakets der EU vom 15. März 2022.

[13] Vgl. Hermann, R. Litauen setzt beim Warentransit nach Kaliningrad die EU-Sanktionen durch – das trifft die Versorgung der russischen Ostsee-Exklave, nzz.ch, vom 19. Juni 2022.

[14] Angerer, J. Wie Russlands Exklave Kaliningrad den EU-Sanktionen trotzt, derStandard.at, vom 25. Juli 2022.

[15] Guidance to EU Member States, 13 July 2022.

[16] Vgl. Opielka, Ein sinnvoller Rückzieher (Fn. 7).

[17] Hermann, R. Kompromiss beim Transport nach Kaliningrad: Mit Sanktionen belegte Güter dürfen auf die Bahn, aber nicht in den Lastwagen, nzz.ch, vom 14. Juli 2022.

[18] Vgl. Hermann, R. Eskaliert Litauen die Frage des Kaliningrad-Transits, oder setzt es bloss EU-Regeln um?, nzz.ch, vom 23. Juni 2022.

[19] Šemelis, A. – Valiauskaitė, A. Befürchtungen einer weiteren Transitkrise in Kaliningrad, da litauische Banken russische Zahlungen stoppen, LRT, vom 4. August 2022; vgl. auch Litauen: Erneut droht Ärger rund um den Warentransit nach Kaliningrad, NORDISCH.info

[20] Vgl. Koch/Müller, Kein Wodka für Kaliningrad (Fn. 8), S. 3.

[21] Zitiert nach Opielka, Ein sinnvoller Rückzieher (Fn. 7).

[22] Das siebte Sanktionspaket der EU gegen Russland wurde am 22. Juli 2022 verabschiedet.

[23] Vgl. Volkery, C. – Koch, M. – Müller, M. – Louven, S. Furcht vor Eskalation: Berlin dringt auf Zugeständnisse an Moskau, handelsblatt.com, vom 30. Juni 2022

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