Donnerstag, 28. März 2024
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Gewalt und Chaos, bis Erdogan Präsident wird?

Der gestrige Anschlag in Ankara ist nur die Fortsetzung einer Welle der Gewalt, die seit acht Monaten über die Türkei hinweg schwappt. Für Kritiker des immer autoritärer regierenden Staatspräsidenten Erdogan steckt dahinter pures Machtkalkül. Doch das Risiko, dass die Situation außer Kontrolle gerät, birgt unvorhersehbare Gefahren auch für Europa und den Rest der Welt.

Die kurdische Terrororganisation PKK oder ihre syrische Schwesterorganisation PYD/YPG, oder beide in Zusammenarbeit; der sogenannte Islamische Staat; die dschihadistische Al-Nusra-Front; Handlanger des seit dem Abschuss eines russischen Kriegsflugzeugs durch die türkische Luftwaffe mehr als nur verstimmten russischen Präsidenten Putin; der Geheimdienst des syrischen Präsidenten Assad, einst Erdogans Busenfreund, dann vom türkischen Präsidenten zum Todfeind erklärt; der Iran, der zusammen mit Russland der größte Unterstützer des Assad-Regimes ist – ein kleiner Auszug aus der Liste der möglichen Verantwortlichen für den Anschlag in Ankara, der gestern mindestens 28 Todesopfer gefordert hat.

Das zeigt, wie viele Feinde sich die Türkei unter ihrem machtlüsternen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan in den letzten Jahren gemacht hat. Dabei hatte Erdogans Partei AKP einst die Devise „Null Probleme mit den Nachbarländern“ ausgerufen. Mittlerweile sind es null Nachbarn, mit denen die AKP-Regierung keine Probleme hat.

Dieses Mal schlugen die Terroristen im Herzen der Hauptstadt zu, mitten im Regierungsviertel, vor dem Hauptquartier der Luftwaffe, in unmittelbarer Nähe des Parlaments. Die Geheimdienste und Sicherheitskräfte, die solche Attentate eigentlich verhindern müssten, waren indes damit beschäftigt, Facebook und Twitter auszuspionieren und Oppositionelle zu bespitzeln, die Erdogan beleidigen, um sie vor Gericht zu bringen.

Aus der Liste der üblichen Verdächtigen suchte sich die Regierung die syrischen Kurden aus, die umgehend jegliche Verwicklung in den Anschlag bestritten, obwohl der Attentäter offiziell als syrischer Kurde identifiziert wurde. Ankara suche lediglich einen Vorwand, um in Syrien einzumarschieren und die Kurden anzugreifen, beteuerten sie. Währenddessen wurde im Südosten der Türkei ein weiterer Anschlag verübt, dem mindestens sechs Menschen zum Opfer fielen.

Strudel der Gewalt

Seit den Parlamentswahlen vom 7. Juni des Vorjahres versinkt die Türkei in einem Strudel der Gewalt. Terroranschläge auf Zivilisten in Diyarbakir, Ankara, Istanbul (wo zehn deutsche Touristen ums Leben kamen) und jetzt wieder in der Hauptstadt wechseln sich ab mit Vergeltungsschlägen und „Reinigungsaktionen“ der türkischen Sicherheitskräfte im Südosten des Landes, bei denen auch nicht viel Rücksicht auf die Zivilbevölkerung genommen wird. Hunderte Todesopfer auf allen Seiten sind seitdem – je nach Standpunkt und Sympathie – beklagt oder bejubelt worden.

Erdogan beschuldigt die Kurdenpartei HDP, die Gewalt zu befeuern. Erdogans Gegner zeichnen ein anderes Bild, bei dem der Präsident weniger gut davonkommt. Bekanntlich hatten die Ergebnisse der Februar-Wahl im Vorjahr, bei der seine Partei eine deutliche Schlappe hinnehmen musste, dem nach persönlicher Alleinherrschaft strebenden Machtmenschen nicht gepasst. Für seinen Plan, die parlamentarische Demokratie der Türkei in eine präsidiale Demokratie umzuwandeln, die er – nach eigenen Angaben wie der französische oder der amerikanische Präsident, seinen Kritikern zufolge aber wohl eher wie das Staatsoberhaupt Nordkoreas – zu leiten gedenkt, hätte er eine Verfassungsmehrheit gebraucht. Daher ließ er die verlorene Wahl – nach Schein-Regierungsverhandlungen mit der Opposition – kurzerhand wiederholen.

In der Zeit zwischen den beiden Wahlgängen wurde das Land von einer Welle der Gewalt heimgesucht, ganz gemäß Erdogans Warnung, dass dem Land ohne einen starken Präsidenten das Chaos drohe. Sein Plan, die verlorenen Stimmen zurückzuholen, indem die Wähler in einer Atmosphäre der Unsicherheit in die Arme eines „starken Mannes“ getrieben werden, ging nur teilweise auf. Zwar konnte die AKP die absolute Mehrheit zurückgewinnen und weiter allein regieren, doch für die notwendige Mehrheit, um zumindest eine Volksabstimmung über das Präsidialsystem durchzuführen, reichte es wieder nicht. Daher geht die Gewalt nach dem gebetsmühlenartig vorgetragenen Motto „Präsidentschaft oder Chaos“ nicht nur unvermindert, sondern sogar verstärkt weiter, denn – so das durchaus plausible Machtkalkül – der Anstieg der Gewalt könnte bei einer weiteren Neuwahl noch in diesem Jahr oder bei einem Referendum zum gewünschten Ziel führen.

Dabei ist Erdogan ohnehin de facto ein Präsident mit größerer Macht, als ihm gemäß der Verfassung des Landes eigentlich zusteht. Wie Russlands Präsident Putin hat er einen ihm treu Ergebenen als Regierungschef eingesetzt, der dem cholerischen Machthaber nie widerspricht oder in die Quere kommt. Das bisherige demokratische System hat er bereits für beendet erklärt. Jetzt fordert er eine Anpassung der Verfassung an die realen Gegebenheiten.

Auch Europa ist betroffen

Abgesehen von den menschlichen Tragödien kann uns in Europa diese Spirale der Gewalt nicht gleichgültig lassen, denn die Türkei hat aufgrund ihrer geographischen Lage eine Schlüsselrolle im Syrien-Krieg und der damit verbundenen Flüchtlingskrise. Nicht umsonst hofieren die Europäische Union und ihre Regierungschefs, allen voran Angela Merkel, die türkische Regierung und Erdogan und verschließen die Augen vor groben Menschenrechtsverletzungen und der Missachtung grundlegender Freiheiten wie der Presse- und Versammlungsfreiheit und der freien Meinungsäußerung.

Die Kurdenmilizen, die im Norden Syriens mit Unterstützung des Westens und Russlands erfolgreich gegen den Islamischen Staat kämpfen, werden von der Türkei mit großem Argwohn betrachtet, weil sie dort möglicherweise die Gründung eines eigenen Staatsgebildes nach nordirakischem Vorbild anstreben. Langfristig könnte das die Stabilität der Türkei gefährden, wenn sich überwiegend von Kurden bevölkerte türkische Provinzen den beiden kurdischen Nachbarregionen anschließen wollten.

Sollte die türkische Armee tatsächlich im Norden Syriens einmarschieren, um den Vormarsch der YPG zu stoppen, sind unvorhersehbare Konsequenzen zu befürchten. Die USA und Russland sind sich im Syrien-Konflikt nur in der Unterstützung der YPG einig. Vor allem Russland, das die Türkei nach dem Flugzeugabschuss mit Sanktionen belegt hat, könnte militärisch reagieren. Was passiert, wenn dann alle am Syrien-Konflikt beteiligten Seiten eingreifen, mag man sich gar nicht vorstellen. Nicht wenige Beobachter stellen Vergleiche mit den Entwicklungen in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg an und warnen vor dem Funken, der das Pulverfass zum Explodieren bringen könnte.

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