Samstag, 20. April 2024
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Die Reaktionen der EU und des Europarates auf die vierte Novellierung der ungarischen Verfassung (Teil 2)

Nachdem in Teil 1 die eher verhaltene Reaktion der supranationalen EU auf die vierte Novellierung der ungarischen Verfassung dargestellt wurde, wird nachstehend der verblüffenden Tatsache nachzugehen sein, warum sich der bloß intergouvernemental konzipierte Europarat entschlossen hat, gegen Ungarn ein entsprechendes Monitoring-Verfahren einzuleiten.

[[image1]]Monitoring im Europarat

Dass die supranationale EU über ein Monitoring- und Sanktionsverfahren für schwerwiegende Verletzungen ihrer tragenden Grundwerte (Artikel 7 EUV) verfügt, ist verständlich, bei einer bloß intergouvernementalen Internationalen Organisation, wie der Europarat eine ist, überrascht das aber, obwohl es sich dabei um die wichtigste politische Regionalorganisation in Europa handelt, gemäß deren Artikel 3 ihrer Satzung (1949)[1] alle Mitgliedstaaten sowohl das Rechtsstaatsprinzip als auch den Menschenrechtsschutz zu beachten haben. Dazu kommt noch als wichtigste Verpflichtung das Bekenntnis zur Demokratie, das zwar nicht expressis verbis in der Satzung selbst, aber an mehreren Stellen in der Präambel verankert ist.[2] Und trotzdem kennt der Europarat eine Reihe von Monitoring-Verfahren, die sogar – im Unterschied zum Sanktionsverfahren gemäß Artikel 7 EUV, das maximal in einer Stimmrechtssuspendierung des belangten Mitgliedstaates enden kann – zu einem Ausschluss aus dem Europarat führen können (Artikel 8 Satzung).

War die Einhaltung dieser Kriterien für die zehn Gründerstaaten des Europarates sowie die bis 1989 diesem beitretenden weiteren zwölf Staaten an sich kein grundlegendes Problem, so warf die seit Anfang der 1990-er Jahre verstärkt betriebene Neuaufnahme mittel- und osteuropäischer Länder (MOEL) erstmals Bedenken hinsichtlich deren demokratischen Fähigkeiten auf. Dementsprechend wurde 1989 zunächst ein sogenannter „Sondergaststatus“ („Special Guest Status“) als Vorstufe der Vollmitgliedschaft eingeführt. Dieser beinhaltete eine enge Kooperation auf intergouvernementaler und parlamentarischer Ebene und sollte den Aufnahmeprozess des Beitrittswerbers vorbereiten. In Wahrheit führte dieser Status aber zu einer fortschreitenden Verwässerung der Beitrittskriterien[3], die in der weiteren Folge im August 1997 auch den österreichischen Vize-Generalsekretär des Europarates, Peter Leuprecht, veranlasste, von seinem Posten medienwirksam zurückzutreten.[4]

Zur Einhaltung der Beitrittsbedingungen und Verpflichtungserklärungen („commitments“) der seit 1990 aufgenommenen MOEL wurde am Wiener Gipfel der Staats-  und Regierungschefs am 9. Oktober 1993[5] politisch die Einführung eines eigenen „Monitoring-Systems“ akkordiert, das in den einzelnen Organen des Europarates entsprechend umgesetzt werden sollte. Damit würde es erstmals neben den Untersuchungen als Teil des Aufnahmeverfahrens ein politisch motiviertes „Monitoring-System“ mit den Elementen „kritischer Dialog“ und „Integrationshilfe“ für die Zeit auch nach dem Beitritt geben.[6]

Vielfalt der Monitoring-Verfahren

In der Satzung des Europarates ist ein „Monitoring“-Verfahren zur Überprüfung der Einhaltung der Satzungsverpflichtungen nicht vorgesehen. Gemäß Artikel 22 iVm Artikel 23 und Artikel 8 der Satzung ist die Parlamentarische Versammlung aber befugt, die Einhaltung der mitgliedstaatlichen Verpflichtungen zu überprüfen und dem Ministerkomitee ein entsprechendes Vorgehen anzuraten, das dann Maßnahmen gemäß Artikel 8 Satzung ergreifen kann, die bis zum Ausschluss aus der Organisation reichen können.

Ausgehend von der vorerwähnten politischen Einigung am Wiener Gipfel Anfang  Oktober 1993 beschlossen die Parlamentarische Versammlung, das Ministerkomitee und der „Kongress der Gemeinden und Regionen des Europarates“ die Einrichtung eines solchen Monitoring-Verfahrens, wobei sie konzeptiv allerdings unterschiedlich vorgingen. Während das Ministerkomitee dabei einen themenorientierten Ansatz wählte, beschlossen die Parlamentarische Versammlung und der „Kongress der Gemeinden und Regionen des Europarates“ ihre Monitoring-Verfahren länderspezifisch durchzuführen.

Neben diesen allgemeinen „Monitoring-Verfahren“ im Schoß des Europarates, die von den erwähnten drei Organen getrennt durchgeführt werden, bestehen eine Reihe spezieller „Monitoring-Verfahren“ im Rahmen bestimmter Europarats-Konventionen zur Überwachung von deren ordnungsgemäßer Durchführung, wie zB im Rahmen der Europäischen Sozialcharta, des Europäischen Übereinkommens zur Verhütung von Folter, des Rahmenübereinkommens zum Schutz nationaler Minderheiten, des Übereinkommens über Geldwäsche sowie Ermittlung, Beschlagnahme und Einziehung von Erträgen aus Straftaten uam.

Monitoring in der Parlamentarischen Versammlung

Den Anfang in der Ausbildung eines eigenen Monitoring-Verfahrens machte die Parlamentarische Versammlung mit der Richtlinie 484 (1993) iVm der Empfehlung 1201 (1993), die eine Berichtspflicht für den Fall von Problemen im Bereich des Minderheitenschutzes vorsahen. Institutionalisiert wurde das Monitoring-Verfahren aber erst mit der Richtlinie Nr. 488 (1993)[7], der sogenannten „Halonen-Order“, mittels derer der Streit  über die Aufnahme der Slowakei wegen ihrer restriktiven Politik gegenüber den ungarischen Minderheiten gelöst werden konnte. Seit 1993 wurden Monitoring-Verfahren in Bezug auf Albanien, Bulgarien, Estland, Kroatien, Lettland, Litauen, die FYROM, die Republik Moldau, Rumänien, Russland, die Slowakei, die Tschechische Republik, die Türkei und die Ukraine eingeleitet.

Nach der Verabschiedung einer Reihe weiterer präzisierender Entschließungen und Richtlinien[8] wurde 1997 durch die Entschließung Nr. 1115 ein eigener „Monitoring-Ausschuss“ eingesetzt, der einmal innerhalb von zwei Jahren zu jedem „überwachten“ Mitgliedstaat Bericht erstatten muss. Kommt es – entweder auf Vorschlag des Präsidiums der Parlamentarischen Versammlung oder auf Vorschlag eines Ausschusses derselben bzw einer Gruppe von mindestens zehn Abgeordneten – zur Einleitung eines Monitoring-Verfahrens, so werden zunächst für den betroffenen Staat zwei Berichterstatter bestimmt, die verschiedenen Staaten sowie verschiedenen politischen Gruppen entstammen müssen. Danach kommt es im Monitoring-Ausschuss zu einer vertraulichen Aussprache mit der nationalen Delegation des betreffenden Staates. Im Anschluss daran informieren sich die Berichterstatter „sur place“ über die Probleme und erstellen daraufhin einen Länderbericht, der auch einen Vorschlag für eine Entschließung der Parlamentarischen Versammlung oder eine Empfehlung an das Ministerkomitee enthalten kann. Zuletzt kommt es in der Parlamentarischen Versammlung zu einer entsprechenden Abstimmung, ob das Überwachungsverfahren fortgesetzt werden soll oder nicht und ob Sanktionen ergriffen werden sollen. Die Sanktionsmaßnahmen gemäß Artikel 8 der Satzung können diesbezüglich von der Suspendierung der Stimmrechte der entsprechenden Delegationen[9] bis hin zu einer Empfehlung an das Ministerkomitee zur Eröffnung eines Ausschlussverfahrens aus dem Europarat reichen.

Historisch gesehen hat die Parlamentarische Versammlung nicht gezögert, in besonders kritischen Fällen Sanktionen gemäß Artikel 8 Satzung in Erwägung zu ziehen, wie dies zB im Falle Griechenlands (1969)[10], der Türkei (1980)[11], der Ukraine (1999 – 2001)[12] und Russlands (2000)[13] der Fall war.[14]

Monitoring im Ministerkomitee

Durch zwei Rechtsakte vom 10. November 1994[15] und vom 20. April 1995[16] kam es im Ministerkomitee zur definitiven Einführung eines Monitoring-Verfahrens – auf streng vertraulicher Basis – das mittels eines konstruktiven, nicht-diskriminierenden Dialogs abläuft. Dabei geht es nicht so sehr – wie im Monitoring-Verfahren der Parlamentarischen Versammlung – um einzelne (neu aufgenommene) Staaten, sondern vielmehr um „Themenbereiche“ („thematic monitoring“), die alle – auch die „alten“ Mitgliedstaaten – betrafen. Im Juli 2004 nahm das Ministerkomitee ein revidiertes Verfahren für das thematische Monitoring an, novellierte dieses aber bereits drei Jahre später, nämlich Anfang Juli 2007, erneut. Dementsprechend wird ein thematisches Monitoring im Ministerkomitee nur mehr auf einer ad hoc-Basis und auch nur auf Antrag eines Mitgliedstaates oder des Generalsekretärs des Europarates abgeführt.[17]

Damit stehen sich im Europarat im Bereich des Monitoring die beiden Organe Parlamentarische Versammlung und Ministerkomitee „in einer Konkurrenzsituation gegenüber“[18], in der der Parlamentarischen Versammlung eindeutig mehr Durchschlagskraft attestiert wird, während vom Monitoring im Ministerkomitee angenommen wird, dass es aufgrund seiner vertraulichen Natur zu keinen effektiven Ergebnissen führen wird.[19] Immerhin unterstreicht aber der vorerwähnte Beschluss der Ministerbeauftragten vom 5. Juli 2007 in Ziffer 2, dass das Monitoring des Ministerkomitees mit den anderen Monitoring-Verfahren im Europarat kompatibel sein und diese als Ganzes verstärken muss.[20]

Monitoring im „Kongress der Gemeinden und Regionen des Europarates“

Da es ua auch zu den Zielsetzungen des „Kongresses der Gemeinden und Regionen des Europarates“ gehört, eine Bewertung der kommunalen und regionalen Selbstverwaltung, vor allem innerhalb der Beitrittskandidaten, auf der Basis der Europäischen Charta der kommunalen Selbstverwaltung (1985), vorzunehmen, überprüft der Kongress entweder ex offo oder auf Empfehlung der Parlamentarischen Versammlung bzw des Ministerkomitees „sur place“ im jeweiligen Mitgliedstaat die konkrete Ausgestaltung der Selbstverwaltung nachgeordneter Gebietskörperschaften.

Suspendierung und Beendigung der Mitgliedschaft

Sollte ein Monitoring-Verfahren einen „schweren Verstoß“ gegen die Grundwerte des Artikel 3 der Satzung des Europarates durch einen Mitgliedstaat dokumentieren, dann können gemäß Artikel 8 der Satzung diesem Staat durch das Ministerkomitee nicht nur seine Vertretungs- und Stimmrechte in den Organen entzogen, sondern er kann auch aufgefordert werden, aus dem Europarat auszutreten. Kommt der Staat dieser Aufforderung nicht nach, dann kann das Ministerkomitee – nach Anhörung der Parlamentarischen Versammlung[21] – beschließen, die Mitgliedschaft dieses Staates zu einem Zeitpunkt seiner Wahl zu beenden. Mit dieser „face saving formula“-Konstruktion vermeidet der Europarat die Erwähnung eines „Ausschlusses“ aus der Organisation, indem der Eindruck erweckt wird, dass der Staat seine Mitgliedschaft quasi freiwillig beendet. In Wahrheit handelt es sich aber um einen Ausschluss aus der Organisation, an dem der betroffene Mitgliedstaat nur mehr den genauen Termin desselben beeinflussen kann.

Stellung Ungarns im Europarat

Ungarn wurde am 6. November 1990 als erster der ehemaligen Ostblockstaaten in den Europarat aufgenommen und ratifizierte in der Folge die EMRK am 5. November 1992. Die Delegation Ungarns in der Parlamentarischen Versammlung, der 318 Abgeordnete aus den 47 Europarats-Staaten angehören, besteht aus 7 Vertretern und 7 Stellvertretern, ebenso vielen wie im Kongress der Gemeinden und Regionen des Europarates. Der Beitrag Ungarns zum ordentlichen Haushalt des Europarates im Jahr 2013 in Höhe von knapp 244 Mio Euro beträgt 1,8 Mio Euro. Im Jahr 2012 wurde Ungarn vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte 24 mal wegen einer Verletzung der EMRK verurteilt.

Der Bericht des Menschenrechts-Kommissars des Europarates, Alvaro Gil-Robles, an das Ministerkomitee vom 11.-14. Juni 2002 über seinen Besuch in Ungarn enthält noch den Satz: „Human rights are respected in Hungary“.[22] In der Folge sollte sich diese Aussage mit dem Amtsantritt der Regierung Orbán II im Jahre 2010 aber als trügerisch erweisen. Vor allem die am 11. März 2013 verabschiedete vierte Novelle der ungarischen Verfassung ruft schwere rechtstaatliche Bedenken hervor, diente sie doch unter anderem dazu, mehrere wegweisende Urteile des ungarischen Verfassungsgerichts dadurch leer laufen zu lassen, dass die dabei annullierten Gesetze inhaltlich in Verfassungsrang gehoben und damit dem Zugriff des Verfassungsgerichts entzogen wurden.

Monitoring gegen Ungarn

Die Parlamentarische Versammlung beschloss im Jänner 2013, ein Monitoring-Verfahren gegen Ungarn einzuleiten, um damit ua das Anfang 2011 in Kraft getretene umstrittene ungarische Mediengesetz auf seine Vereinbarkeit mit den demokratischen Standards des Europarates zu überprüfen. Dazu hatte die Parlamentarische Versammlung auch die sogenannte „Venedig-Kommission“ des Europarates[23] um eine gutachtliche Äußerung gebeten. Daneben wurde von einer Reihe von Abgeordneten der Entwurf für eine eigene Resolution eingereicht, die Ungarn wegen der Verletzung des Rechtstaatsprinzips und der Menschenrechte verurteilen sollte.[24]

Am 25. April 2013 stimmte das Monitoring-Komitee der Parlamentarischen Versammlung des Europarates für die Einleitung eines Überprüfungsverfahrens, ob in Ungarn im Zuge seiner mehrfachen Verfassungsänderungen durch die Regierung Orbán II die tragenden Grundwerte, die in der Satzung des Europarates verankert sind, verletzt wurden. Nach Ansicht des Monitoring-Komitees ruft die neue Verfassung schwerwiegende Bedenken dahingehend hervor, ob Ungarn damit die Verpflichtungen aus seiner Mitgliedschaft im Europarat weiterhin ordnungsgemäß erfüllen kann.[25]

Am 15./16. Juni 2013 wird die Venedig-Kommission ihre Stellungnahme zu den aktuellen Verfassungsänderungen vorlegen, aufgrund derer in der Folge die Parlamentarische Versammlung darüber abstimmen wird, ob ein formelles Monitoring-Verfahren gegen Ungarn durchgeführt werden soll. Sollte es zu einer positiven Beschlussfassung kommen, dann wäre Ungarn der erste (EU-)Staat, gegen den ein solches Verfahren eingeleitet wird.[26] Bisher wurde ein solches Vorgehen an sich ja nur bei neuen Mitgliedstaaten des Europarates im Vorfeld ihres Beitritts bzw. unmittelbar danach gewählt, nicht aber gegen sogenannte „Altstaaten“ eingesetzt.

Monitoring durch eine Nichtregierungsorganisation: Human Rights Watch

Neben der internationalen regierungsamtlichen Organisation (IGO) Europarat führte aber auch eine nicht-regierungsamtliche internationale Organisation (INGO), nämlich Human Rights Watch, ebenfalls ein Monitoring-Verfahren gegen Ungarn durch und legte als Abschluss desselben am 16. Mai 2013 einen 29-seitigen Bericht[27] vor, der zu dem Schluss kommt, dass Ungarn mit den Verfassungs- und Gesetzesänderungen seine rechtlichen Verpflichtungen sowohl als Mitglied des Europarates als auch der EU verletzt hat. Die Verfassungsnovellen und die damit zusammenhängenden insgesamt 600 Gesetzesnovellen haben die Unanhängigkeit der Justiz und Justizverwaltung aufgehoben, knapp 300 unliebsame Richter in den vorzeitigen Ruhestand gezwungen und die Kompetenz des Verfassungsgerichts eingeschränkt, neue Gesetze auf ihre Verfassungskonformität zu prüfen. In diesem Sinn stellte Lydia Gall, die Balkan- und Osteuropaexpertin von Human Rights Watch, fest, „dass die Gesetzesänderungen der ungarischen Regierung den Rechtsstaat und den Schutz der Menschenrechte untergraben“.[28] Nach ihrer Einschätzung und damit auch der von Human Rights Watch ist es demnach nicht nur zu begrüßen, dass die Parlamentarische Versammlung des Europarates die Einleitung eines Monitoring-Verfahrens betreibt, sondern dass auch die EU gegen Ungarn Sanktionsmaßnahmen nach Artikel 7 EUV einzuleiten beginnt.[29]

Fazit

Wie immer das Monitoring-Verfahren der Parlamentarischen Versammlung gegen Ungarn auch ausgehen wird, allein der Umstand, dass es überhaupt eingeleitet wird, stellt schon eine außergewöhnliche Vorgangsweise dar.

Bemerkenswert ist aber dabei, dass der Druck aus dem Europarat und von einer INGO, die sich dem Menschenrechtsschutz verschrieben hat, kommt, nicht aber aus dem Schoß der EU, die längst die Einleitung des „Frühwarnsystems“ des Artikels 7 Absatz 1 EUV hätte ernsthaft erwägen müssen. Dass die dazu berechtigten Organe (ein Drittel der Mitgliedstaaten, das Europäische Parlament und die Kommission) mit der Einleitung eines solchen Verfahrens – im Zuge dessen der Rat mit der Mehrheit von vier Fünfteln seiner Mitgliedstaaten und nach Zustimmung des Europäischen Parlaments die Feststellung zu treffen hat, „dass die eindeutige Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der Grundwerte des Artikel 2 EUV“ durch Ungarn besteht oder nicht – zögern, lässt sich unter anderem auch damit erklären, dass diese prohibitiv hohen Mehrheiten für die Einleitung eines Überwachungsverfahrens einfach nicht erreicht werden können. Unter diesen Voraussetzungen verliert aber ein „Frühwarnsystem“ an sich seinen Sinn – es wird damit nämlich selber zur „Atombombe“, die man politisch keinesfalls gegen einen Mitgliedstaat einzusetzen gedenkt.

Dass es bisher zu keiner Einleitung des „Frühwarnsystems“ des Artikels 7 Absatz 1 EUV gekommen ist, ist bedauerlich. Zum einen hätte man Ungarn damit unmissverständlich signalisieren können, dass mit dieser Warnung die Geduld der anderen Mitgliedstaaten endgültig erschöpft ist, und zum anderen hätte man aus dem Stimmverhalten derselben genau ersehen können, wie ernst es die jeweiligen Mitgliedstaaten mit der Einhaltung der tragenden Grundwerte des Artikel 2 EUV eigentlich meinen. Offensichtlich wollte man aber gerade das unbedingt vermeiden. 


[1] BGBl. 121/1956 idF BGBl III 54/2003.

[2] Vgl. dazu allgemein Buchsbaum, T. Zukunftsweisende Aktivitäten des Europarates im Demokratiebereich – E-Voting, Demokratiezukunftsforum, E-Democracy, in: Hummer, W. (Hrsg.), Österreich im Europarat 1956 – 2006 (2008), S. 228.

[3] Steenbrecker, A. Politisches Monitoring im Europarat, in: Holtz, U. (Hrsg.), 50 Jahre Europarat (2000), Schriften des ZEI, Bd. 17, S. 173.

[4] Hummer, W. Der Europarat: Grundlagen, Struktur, Arbeitsweise, Tätigkeitsfelder, Außenbeziehungen in: Hummer (Fußnote 2), S. 12.

[5] Vgl. dazu Schwimmer, W. Der Europarat: Entstehungsgeschichte, Rolle und Stellenwert für Österreich, in: Hummer (Fußnote 2), Anhang Dok. 3 auf S. 83 ff.

[6] Vgl. dazu Winkler, G. Der Europarat und die Verfassungsautonomie seiner Mitgliedstaaten: Eine Bestandsaufnahme (2005), S. 421 ff.

[7] Honouring of obligations and commitments entered into by member states (Council of Europe – Parliamentary Assembly), Order No. 488 (1993), Straßburg, 29. Juni 1993.

[8] Vgl. dazu die Entschließung 1031 (1994) sowie die Richtlinie Nr. 508 (1995); siehe dazu Steenbrecker (Fußnote 3), S. 175 f.

[9] So entzog die Parlamentarische Versammlung zB den russischen Abgeordneten wegen des Tschetschenien-Konflikts für die Periode 2000/2001 das Stimmrecht.

[10] Empfehlungen 541 und 567.

[11] Empfehlung 1266.

[12] Empfehlungen 1395, 1451 und 1513.

[13] Empfehlung 1456.

[14] Vgl. dazu Hummer (Fußnote 4), S. 18 f.

[15] Declaration on compliance with commitments accepted by the member states of the Council of Europe.

[16] Procedure for implementing the declaration of 10 November 1994 on compliance with commitments accepted by the member states of the Council of Europe.

[17] Vgl. Committee of Ministers, Working methods and procedures: recent developments (2007), Kap. 7.

[18] Steenbrecker (Fußnote 3), S. 179.

[19] Raue, J. Der Europarat als Verfassungsgestalter seiner neuen Mitgliedstaaten: Vom Beobachter zum Reformer in Osteuropa? (2005), S. 47.

[20] Hummer (Fußnote 4), S. 17.

[21] Gemäß Entschließung (51) 30.

[22] CommDH(2002)6 vom 2. September 2002, Ziff. 55.Hu

[23] Vgl. dazu Matscher, F. Die Europäische Kommission für Demokratie durch Recht (Venedig-Kommission), in: Hummer (Fußnote 2), Bd. 1, S. 191 ff.

[24] Serious setbacks in the fields of the rule of law and human rights in Hungary, Doc. 12490, vom 25. Jänner 2013, eingebracht von Mrs de Pourbaix-Lundin ua.

[25] Ungarn im Visier des Europarats, www.kleinezeitung.at, vom 25. April 2013.

[26] Europarat empfiehlt Monitoringverfahren gegen Ungarn, orf.at/stories/2178776/…

[27] Human Rights Watch, Wrong Direction on Rights. Assessing the Impact of Hungary’s New Constitution and Laws, May 2013.

[28] Ungarn: Rechtsstaat unter Beschuss, www.hrw.org, vom 16. Mai 2013.

[29] Ungarn: EU muss auf Verfassungsänderungen reagieren, www.hrw.org, vom 12. März 2013.

 

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