Freitag, 19. April 2024
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Deutschland: Das lange Warten auf den großen politischen Aufbruch

Bundeskanzlerin Angela Merkel / Bild © CC0 Creative Commons, Pixabay (Ausschnitt)

So sehr die CDU im Vorfeld der Weichenstellung für die Nachfolge von Angela Merkel Basis-Demokratie lebt, von einer politischen Aufbruchsstimmung kann in Deutschland noch nicht die Rede sein.

In einer Woche steht fest, wer den Vorsitz der derzeit größten Partei in Deutschland, nämlich der CDU, übernehmen und damit wahrscheinlich auch das Bundeskanzleramt führen wird. Durchaus eine Entscheidung, die über Deutschland hinaus Bedeutung hat. Immerhin handelt es sich hinsichtlich des Bruttoinlandsprodukts um die größte Volkswirtschaft Europas und um die viertgrößte Volkswirtschaft weltweit. Dementsprechend hat auch Berlin politisch ein gewichtiges Wort, zunächst in der EU. Verfolgte man in den letzten Wochen die drei Kandidaten für die Merkel-Nachfolge, so musste man schlussendlich zur Erkenntnis kommen, dass man von einer Veränderung, wie sie etwa in Österreich 2017 zunächst an der Spitze der Volkspartei und dann mit der Neubildung der Regierung stattfand, weit entfernt ist.

Nur zwei Kandidaten mögliche Siegläufer

Das betrifft letztlich auch die Kandidaten. Der 37-jährige Jens Spahn, der gerne Maß an Sebastian Kurz nimmt, schwang zwar große Worte, konnte aber mit seinen inhaltlichen Ansagen nicht überzeugen und gefällt sich vor allem in der Rolle eines Selbstdarstellers. Der 63-jährige Friedrich Merz ist ohne Zweifel ein politisches Schwergewicht, Garant für einen Kurswechsel, aber belastet mit seiner Tätigkeit als deutscher Aufsichtsratschef beim weltweit größten Vermögensverwalter „BlackRock“. Und man merkt ihm auch an, dass er in den letzten 15 Jahren nicht im politischen Leben stand. Schließlich ist da noch die 56-jährige Annegret Kramp-Karrenbauer, die es offenbar als Generalsekretärin verstanden hat, die Parteifunktionäre für sich zu gewinnen, sich aber nicht unbedingt als eine neue Lichtgestalt erwiesen hat. Bei ihr dürfte man sicher gehen, dass der Merkel-Kurs mit ein paar Abstrichen und Neuerungen fortgesetzt wird. Ein Neubeginn, und das würde die CDU brauchen, sieht freilich anders aus.

Vertrauensverlust in das politische System

Die Stimmungslage rund um die Suche nach einer neuen Parteichefin beziehungsweise einem neuen Parteichef widerspiegelt sich aber im Stimmungsbild Deutschlands. Das macht eine Studie des renommierten Allensbach-Institutes deutlich, wo Renate Köchert schreibt: „Lange Zeit schien Deutschland von unerschütterlicher Stabilität. Die große Mehrheit der Bürger empfand dies auch so, bewertete die politische Stabilität und das gesamte politische System als besondere Stärke des Landes. Diese Bilanz ist Geschichte. Auch das Vertrauen in das politische System hat gelitten“.

Und tatsächlich gibt das Zahlenwerk zu bedenken. So ist der Anteil jener, die die politische Stabilität als besondere Stärke des Landes empfinden, innerhalb eines Jahres von 72 auf 46 Prozent abgestürzt. Parallel dazu sieht knapp die Hälfte die unzureichende politische Stabilität als besondere Schwäche Deutschlands. Die Konsequenz aus diesem Stimmungsbild ist eine Folge dessen, was seit der letzten Bundestagswahl vor einem Jahr passierte und sich in einer Fülle von öffentlich ausgetragenen Streitigkeiten zeigte.

Der Absturz von CDU/CSU und SPD

Die gescheiterten Jamaika-Verhandlungen und der mühsame, immer wieder von innerparteilichen und innerkoalitionären Streitigkeiten gestörte Regierungsalltag der großen Koalition lassen die Bürger zweifeln, ob von den Volksparteien noch Handlungsstärke und Stabilität zu erwarten sind. Und das fällt sowohl der CDU/CSU als auch der SPD auf den sprichwörtlichen Kopf.

Auf die Frage, welche Parteien überhaupt für eine Wahl in Frage kommen, nannten in den letzten 15 Jahren mehr als 40 Prozent der Wahlberechtigen die CDU/CSU. Noch Ende 2017 und im heurigen Frühjahr kamen die Unionsparteien für bis zu 44 Prozent der Wahlberechtigten bei der nächsten Abstimmung in Betracht. Genauso lagen die Potentiale der SPD immer über 30 Prozent, so im März dieses Jahres noch bei 32 Prozent. Seit einigen Monaten ist jedoch geradezu ein Erdrutsch im Gange. So stürzte die CDU/CSU seit März von 42 auf 34 Prozent, die SPD von 32 auf 23 Prozent ab. Im gleichen Atemzug wurden die Grünen wählbarer, kletterten von 25 auf 37 Prozent. Die Ursache liegt ohne Zweifel in den Auseinandersetzungen der letzten Monate. Sie haben tiefe Spuren hinterlassen.

Alarmglocken müssten Volkspartei aufrütteln

Für die alten Volksparteien müssen die Alarmglocken läuten, wenn sie diese Allensbacher Studie lesen und ernst nehmen. Haben doch immer mehr Bürger den Eindruck, dass in Deutschland – wie auch in anderen Ländern, man denke nur an Italien – die Zeit der großen Volksparteien vorbei ist. Mittlerweile glauben dies 61 Prozent, nur noch 14 Prozent sind gegenteiliger Meinung. Gleichzeitig ist nur eine kleine Minderheit überzeugt, dass dies dem Land guttut, nämlich 15 Prozent. Dagegen fürchten 42 Prozent, dass die Schwächung der Volksparteien für Deutschland negative Folgen haben wird. Interessant daran ist auch noch, dass Westdeutsche kritischer als Ostdeutsche, über Fünfundvierzigjährige sorgenvoller als die Jüngeren sind.

Dass Dank keine Kategorie für Wähler ist, zeigt eine andere Zahl. Nur 40 Prozent sind nämlich der Meinung, dass Deutschland in den letzten Jahrzehnten mit zwei starken Volksparteien, die über lange Zeit Regierungen stellten, gut gefahren ist und ihre Schwächung daher bedenklich. 47 Prozent meinen dagegen, dass eine Auffächerung des Parteienspektrums zu Lasten der Stärke der Volksparteien die Demokratie bereichert und den Wählern mehr Optionen bietet. In Ostdeutschland vertreten gleich 57 Prozent diese Position. Welche Koalitionen sich die deutschen Wähler wünschen lässt sich allerdings nicht so klar sagen. Sicher ist nur, dass die Große Koalition nicht zum Wunschprogramm zählt. So halten 52 Prozent eine Koalition aus einer großen Partei mit einem kleineren Partner für die beste Konstellation, 13 Prozent sogar die absolute Mehrheit einer Partei. Dagegen wünschen sich nur 20 Prozent der Bürger ein Jamaika-Bündnis.

Politische Entwicklung als Unsicherheitsfaktor

Ein kraftvoller Aufschwung bei den beiden Traditionsparteien wäre ohne Zweifel gefragt. Dazu muss man nur in die Bevölkerung hineinhören. Bei CDU/CSU und SPD zweifelt die Mehrheit zwar nicht an der Regierungsbereitschaft, aber an der Geschlossenheit, die eine wesentliche Voraussetzung für effizientes Regieren ist. Besonders die Unionsparteien werden zurzeit als völlig zerstritten wahrgenommen. Als am wenigsten zerstritten gelten derzeit FDP sowie die Grünen. Letztere sind die einzige Partei, der zurzeit Geschlossenheit und Bereitschaft zur Übernahme von Regierungsverantwortung zugeschrieben werden.

Die Schlussfeststellung des Allensbach-Institutes, das schon in der Vergangenheit immer wieder eine Art Wegweisefunktion für die Unionsparteien innehatte, ist überdeutlich und dramatisch: „Zurzeit ist völlig offen, wie sich die politische Landschaft in den nächsten Jahren entwickeln wird. Diese Unsicherheit bedeutet nicht nur eine Belastung für Deutschland, sondern auch für Europa“.

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