Donnerstag, 28. März 2024
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Unfreiwillig Flüchtling

Wie viel Leid können Menschen ertragen? Wie groß muss eine Tragödie sein, damit sie beachtet wird? Und wie sehr trägt eine Reportage dazu bei, etwas zu verändern, an diesem Leid? Es ist Mittwoch der 5. Februar. Ich sitze in einem kleinen Raum in der Flüchtlingsunterkunft der Caritas in der Berliner Residenzstraße.

[[image1]]Von außen wirkt das Haus nicht prunkvoll, aber auf gewisse Weise imponierend. Vielleicht liegt das an der leicht runtergekommenen Umgebung. Von der hebt es sich ab. In dem Raum: zwei Tische, vier Stühle, eine Tafel und Klöppeldeckchen auf den Tischen. Ein bisschen fühle ich mich, als würde gleich ein Verhör stattfinden. Ich warte.

Rui Wigand, Vorsitzender des Pfarrgemeinderats, hat mich am Empfang abgeholt und hierher gebracht. Im hinteren Trakt des Gebäudekomplexes hat die Caritas im vergangenen November eilig Räume hergerichtet als feststand, dass weitere Flüchtlinge nach Berlin kommen werden und als die Stadt längst nicht mehr wusste, wo man sie noch unterbringt.
Die Tür geht auf und Rui Wigand sagt, er habe zwei Flüchtlinge gefunden die bereit sind, mit mir zu sprechen. Kurz darauf sitze ich Ahmed Salihu und Nasir Abubakar Sadiq gegenüber. Wir können uns auf Englisch verständigen, das klappt gut, sagt Wigand.

Caritas will bei der Integration helfen

Die Flüchtlingsunterkunft im Berliner Bezirk Reinickendorf. In den Zimmern sind die Flüchtlinge zu viert untergebracht. Aus Gründen der Privatsphäre ist der Presse der Zutritt untersagtDie beiden jungen Männer sind Ende 20, höchstens ein wenig älter als 30. Seit vier Wochen lernen sie Deutsch. Montag bis Freitag, jeweils zwei Stunden. Die Caritas will auf diese Weise bei der Integration helfen. Den Rest des Tages versuchen sie rumzukriegen, irgendwie. „Wie versuchen unser Bestes, wir wollen uns integrieren“, sagt Nasir Abubakar Sadiq.
Warum und auf welchem Weg beide nach Deutschland gekommen sind, will ich wissen. „Wir stammen beide aus Nigeria und haben seit 2010 als Gastarbeiter in Libyen gearbeitet. Es war ein gutes Leben, das wir dort führten. Die Menschen waren erfolgreich, wir haben als Elektriker gut verdient. Bis die NATO kam und alles bombardierte. Als der Krieg anfing, gab es keine Flüge mehr raus aus dem Land. Zurück nach Nigeria konnten wir nicht aufgrund der dortigen Unruhen.

Mit der Intervention durch die NATO in Libyen blieb uns als einziger Weg der nach Europa. Ausländern und Gastarbeitern wurde von den Oppositionellen gesagt, wir sollen verschwinden, uns in Sicherheit bringen, solange wir noch die Möglichkeit dazu haben“, antwortet Sadiq. Einige von ihnen blieben, wenige überlebten. Tausende Menschen starben im libyschen Bürgerkrieg, bis 2011 das Regime von Muammar al-Gaddafi gestürtzt wurde.

Mit tausend anderen Menschen werden Ahmed Salihu und Nasir Abubakar Sadiq eilig in Fischerboote gepfercht und dabei voneinander getrennt. Freiwillig machen sie das nicht. „Aber wir hatten keine Wahl, wir mussten nach Europa. Die Oppositionellen haben den Bürgerkrieg genutzt, um uns wegzuschicken. Hätten wir uns geweigert, hätten sie uns als Anhänger der Regierung bezichtigt“, sagt Sadiq.

Insgesamt ist eine Hand voll dieser Boote nun auf dem Meer. Darunter auch mit Flüchtlingen aus Ghana, Somalia, Eritrea und Äthiopien. Ihr Ziel: Italien. Die Grenzen an Libyens Küste werden seit Beginn der Unruhen nicht mehr kontrolliert. Somit ist der Fluchtweg nach Europa offen.

Eine Woche sind die Boote unterwegs

Nahrung oder Wasser gibt es für die Menschen nicht. In ihrer Verzweiflung fangen sie an, das Salzwasser aus dem Meer zu trinken. „Neben mir sind Menschen gestorben“, sagt Ahmed Salihu. Andere brechen vor Erschöpfung zusammen und verdursten. „Es war so eng. Wir haben am Boden gekauert und hatten keinen Platz, uns zu bewegen.“ Auf anderen Booten fangen die Menschen an, um jeden Tropfen Wasser zu kämpfen. Es kommt zum Drama. Die Wellen der stürmischen See bringen die völlig überladenen Boote zum Entern, es gibt hunderte Todesopfer. Die Geretteten werden auf die italienische Mittelmeerinsel Lampedusa, zwischen Tunesien und Sizilien, gebracht und kommen direkt in Krankenhäuser, wo sie medizinisch versorgt werden und Milch, Wasser und Brot bekommen. „Ich dachte nach und begann zu träumen. Nach einer Woche ohne Essen und Trinken… Ich hörte noch wie jemand sagte ‚Passt auf einander auf‘.“ Dann schläft Nasir Abubakar Sadiq ein.

Ahmed Salihu (li.) und Nasir Abubakar Sadiq im Gesprächsraum der Flüchtlingsnotunterkunft in Berlin„Ich bin vier Tage auf Lampedusa geblieben, es war entsetzlich. 80 Prozent der Menschen dort sind uns mit großer Ablehnung begegnet, haben uns diskriminiert und gaben uns zu verstehen, dass es keinen Platz für uns gibt und wir abhauen sollen“, berichtet Salihu und zeigt mir ein Papier, ein Dokument, das für ihn ein Beweis für die Korruptheit italienischer Behörden ist: „Das ist eine Empfangsquittung über 500 Euro. Damit sollten wir uns ein Flugticket nach Frankreich, Deutschland oder in die Schweiz kaufen. Manche haben sich nach Turin oder Mailand durchgeschlagen und versucht, dort Arbeit zu finden. Aber es gibt in Italien keine Jobs. Ich wollte kein Geld von der Regierung, sondern mein Recht. Denn Rechte hat man als Flüchlting. Aber sie geben sie dir nicht. Ihre Verpflichtung sehen sie mit der Zahlung als beendet an und du sollst das Land verlassen.“

Viele verzweifelte Flüchtlinge geben das Geld für Alkohol aus

Sie lungern auf den Straßen, schlafen nachts im Freien. Als seine 500 Euro fast aufgebraucht sind, entschließt sich Salihu, ein Flugticket nach Berlin zu buchen. „Deutschland hat trotz der Krise eine starke Wirtschaft. Außerdem sprechen 90 Prozent Englisch, das macht auch für mich die Kommunikation einfacher“, begründet er seine Hoffnung, hier mehr Glück zu haben. Kaufen muss ihm das Ticket ein Italiener. „Flugtickets können nur mit einer Kreditkarte bezahlt werden. Welcher Flüchtling hat die schon. Also braucht man die Hilfe eines Italieners, der das Ticket für dich bucht und bezahlt. Kostet der Flug 40 Euro, musst du dem Italiener 100 Euro cash geben. Das hat sich dort zu einem Geschäft entwickelt.“

In Berlin sucht Ahmed Salihu zunächst das Protestcamp der Flüchtlinge am Oranienplatz in Kreuzberg auf. Woher er wusste, dass es das gibt, will ich wissen. „Es hat sich herumgesprochen“, antwortet er. „Ich wusste nicht, wohin ich sonst sollte.“
Zur gleichen Zeit ist Nasir Abubakar Sadiq bereits in Berlin. Am Oranienplatz sucht er täglich nach Freunden oder ihm vertrauten Gesichtern. Er entdeckt seinen Freund Ahmed zuerst: „Das war unglaublich, dass wir uns an diesem Platz wiedergefunden hatten.“

Der Auszahlungsbeleg der italienischen Behörden bescheinigt die Zahlung von 500 Euro an jeden Flüchtling, der sich „freiwillig“ entscheidet, Italien zu verlassen, um etwa nach Deutschland weiterzureisenDie Berliner nennen sie hilfsbereit und freundlich im Umgang mit Fremden oder Flüchtlingen. Der Oranienplatz, der kurzfristig ihr Zuhause wird, deckt aber das ganze Elend deutscher Flüchtlingspolitik auf. Ahmed Salihu: „Die Politik kümmert sich nicht, die Politiker sind in diesem Punkt uneinig, wir Flüchtlinge die Leidtragenden. Wir müssen wieder um unsere Rechte kämpfen.“
Seit vergangenem November wohnen Ahmed Salihu und Nasir Abubakar Sadiq in der Reinickendorfer Residenzstraße. Hier teilen sie sich zu viert ein Zimmer. Ich frage sie, ob sie Kontakt zu ihren Familien haben und will wissen, was sie am meisten vermissen. Ahmed Salihu hat seine gesamte Familie in der Heimat verloren. Er unterdrückt die Tränen. Fast ein bisschen zu stolz, als wolle er damit zeigen, dass er sich nicht kleinkriegen lässt. „Privatsphäre, die vermisse ich. Wir sind erwachsene Männer, aber ich habe kaum Momente für mich allein. Ich würde gerne ein normales Leben führen. Menschlichkeit ist nicht einfach bei dem, was ich erlebt habe.“ Nasir Abubakar Sadiq sorgt sich um seinen Vater. „Er liegt in Nigeria in einem Krankenhaus im Sterben. Geld, um Medizin zu bezahlen, habe ich nicht. Aus Deutschland darf ich ihm die benötigten Medikamente nicht schicken. Es sieht schlecht für ihn aus, aber ich kann nichts machen.“

Viel machen können die beiden Männer auch tagsüber nicht. Nach dem Deutschunterricht fahren sie zum Oranienplatz und versuchen, mit Passanten ins Gespräch zu kommen, um auf ihre Lage aufmerksam zu machen. „Sonst haben wir nichts zu tun. Das ist das Schlimmste.“

***

Die politische Lage in Libyen ist momentan nahezu unverändert. Die Zustände im Land sind chaotisch, unstabil, gefährlich, auf den Straßen kommt es immer wieder zu Unruhen. Ein komplettes Auseinanderbrechen Libyens wird befürchtet, es besteht die Gefahr eines Bürgerkrieges. Das ist jedoch vorerst nur eine Möglichkeit, was nicht heißt, dass es letztlich auch so kommt.

Die politischen Kräfte sind nach wie vor sehr schwach, Polizei, Armee und Sicherheitskräfte unorganisiert. Daran hat auch die Wahl am 7. Juli 2012 nicht viel geändert. Libyens Ministerpräsident Ali Seidan kann nicht viel ausrichten und der libysche Nationalkongress hat den Menschen im Land nicht viel gebracht. Das haben auch die großen landesweiten Demonstrationen am 7. Februar gezeigt, die sich gegen den Nationalkongress, dessen Zeit viele als abgelaufen bewerten, richten. Die Libyer erwarten jetzt neue Gesichter in der politischen Szene ihres Landes. Die Mitglieder des Nationalkongresses möchten ihre Regierunszeit aber verlängern.

Bis zu seinem Tod 2011 sorgte das frühere Staatsoberhaupt von Libyen, Muammar al-Gaddafi, dafür, dass sich Libyen zu einem der größten Waffenlager der Welt entwickelt. Libysche Waffen werden auch in den Bürgerkriegen in Syrien und Mali benutzt.

Ein weiteres Problem sind Islamisten, Salafisten und Dschihadisten sowie die Warlords. Die Gruppen zeigen sich ausgesprochen gewalt- und kampfbereit. Starke Politiker, ein starkes Militär oder auch einfach nur Journalisten sind für sie ebenso unerwünscht wie endlich Ruhe im Land. Es geht einmal mehr um Waffen oder wenigstens nur den Zugang zu Waffen, Geld und Macht. Aber auch Amerika, Katar und Saudi Arabien zeigen aufgrund ihrer eigenen Öl-Interessen keinen Ansatz, Ruhe ins Land zu bringen.

Einzig die Bruderschaft hat bislang kein extremes Gesicht gezeigt, allerdings auch kein beliebtes. Bei der Wahl 2012 hatte sie nahezu keine Chance.

 

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