Freitag, 29. März 2024
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Türkei: Was bringt der neue anatolische Sultan?

51,4 %  EVET / JA zu  48,6 % HAYIR / NEIN – wer’s glaubt, wird selig. Das unerwartet knappe Ergebnis  beim sonntägigen Referendum in der Türkei wird freilich niemand selig machen. Recep Tayyip Erdogan wird seine Verfassungsreform – auch wenn das Ergebnis massiv nach Wahlschwindel riecht – Punkt für Punkt brutal umsetzen und das total gespaltene Land am Bosporus ins politische und wirtschaftliche Abseits führen. Der türkische Präsident, der von demokratischen Standards schon bislang  wenig hielt, wird dank der neuen Machtfülle höchstwahrscheinlich als ebenso unberechenbarer wie gefährlicher Diktator agieren, der weder vom Parlament noch von der Justiz zu bremsen  sein wird.

Das künftige Präsidialsystem, gegen das zwei Oppositionsparteien – die von Mustafa Kemal Atatürk gegründete CHP („Republikanische Volkspartei“) und die pro-kurdische HDP („Demokratische Partei der Völker“) – chancenlos angekämpft haben, wird von Erdogan als wichtigste Reform seit hundert Jahren verherrlicht, die der im Ausnahmezustand befindlichen Türkei Einheit, Stabilität und Sicherheit garantieren werde. Mehr noch: Eine starke Führung, die laut der islamisch-konservativen Partei AKP in unruhigen Zeiten unerlässlich sei, könne auch  die erforderlichen Wirtschaftsreformen leichter realisieren. Der Präsident, der seit dem gescheiterten Putschversuch im vergangenen Jahr mehr als 100.000 ihm suspekte Staatsbeamte entlassen hatte und massenhaft anders denkende  Richter, Staatsanwälte, Militärs, Polizisten und Journalisten verhaften ließ, verspricht seinen Anhängern, das Land rasch in die Top 10 der weltweiten Wirtschaftsriesen zu führen.

Sein Versprechen, dass die türkische Wirtschaft  schon bald wieder um sechs Prozent wachsen werde, klingt zwar wie ein Märchen, wird sich jedoch als Illusion erweisen. Tatsächlich ist der vielbewunderte Aufschwung der Türkei eindeutig zu Ende, der Lira-Kurs abgestürzt, die Inflation auf elf Prozent geklettert und die Arbeitslosigkeit auf rund 13 Prozent angestiegen. Auch der langjährige Boom im Tourismus ist vorbei, weil insbesondere Gäste aus Europa ausbleiben, was die ökonomischen Troubles massiv verschärft. Das alles ist Anlass zur Besorgnis und Grund für Unruhe in der Bevölkerung. Denn selbst mit mehr Machtfülle in neuer Rolle ausgestattet – die autoritäre Ein-Mann-Herrschaft ist ihm geradezu auf den Leib geschneidert – , kann Erdogan den angepeilten Turnaround in absehbarer Zeit wohl kaum schaffen.

 

Demokratie ist durch nichts zu ersetzen

Daher steuert nicht nur die Türkei, sondern auch der neue anatolische Sultan auf schwere Zeiten zu. Um keine Zeit zu verlieren, könnte Erdogan die für November 2019 geplanten nächsten Wahlen vorverlegen. Bis dahin wird die durch den knappen Ausgang des Referendums gestärkte Opposition dem islamisch-konservativen  Präsidenten im Rahmen ihrer wenn auch begrenzten Möglichkeiten das Leben so schwer wie möglich machen. Und falls es mittlerweile zwei, drei Millionen seiner Anhänger dämmern sollte, dass ihr Ja vom 16. April falsch gewesen ist, könnte die AKP die Mehrheit verspielen und der Worst Case noch im letzten Moment verhindert werden. Zur innenpolitisch prekären Lage, die durch das angekündigte Referendum über die Todesstrafe noch angeheizt werden dürfte, gesellt sich obendrein die außenpolitische Isolation, in die sich Erdogan in jüngster Zeit mit ebenso grässlichen wie dümmlichen Aussagen Richtung EU manövriert hat.

Auch wenn es inzwischen sonnenklar geworden ist, dass die Beitrittsverhandlungen mit Brüssel  – wie es der Polit-Experte Stefan Lehne unlängst formuliert hat – „im Koma liegen“ und ein Vollbeitritt der Türkei obsolet ist, muss Erdogan, sofern er nicht komplett bescheuert ist, zumindest die Einsicht haben, dass sein Land ohne Europäische Union total am Sand wäre. Die EU, deren führende Politiker  ihn unisono als  gefährlichen Irren einstufen, ist  immerhin der  mit Abstand wichtigste Handelspartner der Türkei, obendrein  stammen 75 Prozent der Direktinvestitionen im Land am Bosporus  aus Europa. Deshalb müsste Erdogan  seine verbalen Tiraden gegen Deutschland & Co. schleunigst stoppen und trachten, weiterhin einen Fuß in der Tür zu haben und nicht alle Drähte Richtung Westen gänzlich abzubrechen.

Die Türkei hätte folglich, auch wenn sie allmählich zu einer Bananen-Republik versandelt, alles zu versuchen, um möglichst intakte Beziehungen zur EU aufrecht zu erhalten. Und dabei spielt der mit Brüssel geschlossene Flüchtlingsdeal, der den Türken noch etliche dringend benötigte Milliarden Euro bescheren würde, die zentrale Rolle. Man darf also mit Spannung erwarten, ob Erdogan sich in seinen rhetorischen Attacken gegen den seines Erachtens „verrottenden Kontinent“ mäßigen wird  können oder ob er sein feindliches, unter anderem von Größenwahnsinn und Selbstüberschätzung geprägtes Gehabe  fortsetzt  und sich damit  selbst für viele Jahre ins politische Out befördern wird. Es zeichnet sich jedenfalls ab, dass er seine Landsleute in einem weiteren Referendum  über  die künftigen Beziehungen zur Europäischen Union  abstimmen lässt. Fraglich ist schließlich, ob und wenn ja wie der türkische Machthaber künftig die in Europa lebenden vier Millionen Türken, die ihm letztlich zum Sieg beim Referendum verholfen haben, mobilisieren wird.

Das zunehmend autoritäre Regime in der Türkei, das dank des Auslandswahlsystems beispielsweise  von mehr als 50 Prozent der Austro-Türken gestützt wurde, könnte sich leider auch auf diese Bevölkerungsschichten negativ auswirken: Während die  Regierung in Ankara jene in der Fremde lebenden Bürger, die mit „Hayir“ / „Nein“  votierten, als „Terroristen“ diffamiert und als „Verräter“ bezeichnet hat, stehen alle, die mit „Evet“ / „Ja“ stimmten, bei ihr hoch im Kurs – obwohl diese in zwar Demokratien leben, doch absurder Weise für ein undemokratisches System im Heimatland eintraten. Die EU wird jedenfalls rasch eine Strategie finden müssen, wie sie mit einem türkischen Machthaber, der sich womöglich noch zwölf Jahre im Amt halten könnte, umgehen soll. Erdogan hingegen wird sich die geforderte Visafreiheit seiner Landsleute abschminken können, denn so wie’s aussieht, werden die 72 hierfür von Brüssel geforderten Bedingungen niemals erfüllt werden – es sei denn, es kommt letztlich doch nicht zum Worst Case… 

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