Dienstag, 19. März 2024
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Türkei: Der nächste große Krisenherd

Wenn zwei politische Alphatiere wie Wladimir Putin und Recep Tayyip Erdogan aufeinanderkrachen, ist automatisch Gefahr in Verzug. Der aktuelle Konflikt zwischen dem russischen und dem türkischen Staatspräsidenten ist von dramatischer Brisanz, sodass weltweit Hochspannung angesagt ist.

Die beiden Kampfhähne, die vor einigen Monaten noch beste Spezis zu sein schienen, sind nach dem Abschuss eines russischen Kampfbombers durch türkische Jagdflugzeuge im November zu Erzfeinden geworden. Putin warf der Türkei mit Formulierungen wie „Wir werden diese Komplizenschaft mit Terroristen niemals vergessen“ Verrat vor und verhängte gegen das Nachbarland am Schwarzen Meer harte Sanktionen.

Seit Jahresbeginn ist unter anderem der Import von Hühner- und Putenfleisch, Tomaten, Orangen, Weintrauben und Salz aus der Türkei verboten. Zugleich trat wiederum eine Visapflicht für russische Bürger in Kraft, das Außenministerium verhängte eine Reisewarnung, die zum Boykott türkischer Urlaubsdestinationen führen dürfte – bislang haben immerhin vier Millionen Russen Jahr für Jahr in der Türkei Ferien gemacht. Obendrein stoppt Moskau ein geplantes Regierungsabkommen über den gemeinsamen Handel, beschränkt für türkische Unternehmen den Zugang zum russischen Markt und setzt auch das Projekt eines russisch-türkischen Investitionsfonds aus. Starker Tobak also für die Türkei, deren  zweitgrößter Handelspartner und wichtigster Energielieferant Russland ist.

Ankara, nach neuerlichen Luftraumverletzungen durch die Russen fuchsteufelswild, plant naturgemäß Revancheaktionen: So etwa sollen Strafzölle beim Import von Walzstahl eingeführt werden, was die durchwegs prominenten Oligarchen gehörenden russischen Stahlkonzerne hart trifft, weil preisgünstigere Lieferanten aus der Ukraine nunmehr ihre Chance wittern. Es scheint vorerst auch ausgeschlossenen zu sein, dass Erdogan noch immer ein Freihandelsabkommen mit Putins großem Stolz, der Eurasischen Wirtschaftsunion, anstrebt. Für Russland ist der Wirtschaftskrieg mit der Türkei, dem zuletzt achtgrößten Handelspartner, im Hinblick auf die EU-Sanktionen eine zusätzliche Problematik. Der beiderseitige Traum, dass sich das bilaterale Handelsvolumen – zuletzt immerhin 33 Milliarden Dollar – bis zum Jahr 2020 wie geplant beinahe verdreifachen könnte, ist jedenfalls beendet. Der beabsichtige Bau des ersten türkischen Atomkraftwerks in Akkuyu an der Mittelmeerküste durch russische Firmen ist in Frage gestellt, und die Chance, dass die geplante Gasleitung Turkstream, die russisches Gas in die Türkei und nach Südeuropa bringen sollte, jemals gebaut wird, tendiert gegen Null.

Super-GAU für die EU?

Die Eiszeit zwischen den beiden Polit-Egomanen, die ein autoritäres Gehabe der Sonderklasse verbindet,  war allerdings absehbar. Zu groß sind die politischen Differenzen seit Sommer 2015 geworden. Die beiden Länder sind im Syrien-Krieg engagiert, allerdings mit unterschiedlichen Zielsetzungen: Russland kämpft in erster Linie gegen die Terroristen des so genannten „Islamischen Staates“, hält jedoch dem syrischen Machthaber Bashar al-Assad die Stange. Das Nato-Mitglied Türkei hingegen hat sich letztlich zwar ebenfalls zum Kampf gegen den IS durchgerungen, tritt aber vehement gegen den syrischen Machthaber auf und verurteilt die russischen Luftangriffe im Bürgerkriegsland als schweren Fehler. Erdogan, der Stellungen der kurdischen Arbeiterpartei PKK gleich mitbombardieren lässt, muss sich den Vorworf seitens des Kreml gefallen lassen, dass er zur Finanzierung der Dschihadistenmiliz beitrug, weil die Türkei beispielsweise dem IS illegal Erdöl abgekauft habe. Die „Machtclique“ in der Türkei, sagte Putin, habe „den gesunden Menschenverstand“ verloren und sich dank der Zusammenarbeit mit „den Terroristen die Taschen gefüllt“.

Erdogan, seit März 2003 Ministerpräsident, seit August 2014 Staatspräsident der Türkei, spielt im syrischen Bürgerkrieg mit Sicherheit eine undurchsichtige Rolle. Klar hingegen sind seine Absichten im eigenen Land, wo ihm die Zügel zu entgleiten scheinen: Der Mann, der  trotz zehnmonatiger Haftstrafe und lebenslangem Politikverbot ab 1999 eine schillernde Polit-Karriere schaffte, hatte bereits im Mai 2013 mit der gewaltsamen Niederknüppelung von Protestaktionen im Istanbuler Taksim-Platz weltweit für Aufsehen und Kritik gesorgt. Mit den blutigen Ereignissen in den letzten Wochen – bei seinem „Antiterrorkampf“ sind hunderte Kurden getötet und zigtausend Bürger und Bürgerinnen aus der Osttürkei vertrieben worden – dürfte er offenbar endgültig den Bogen überspannt haben. Der allzeit zu Exzessen bereite Despot, der mit Hilfe der regierenden muslimisch-konservative AKP (Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung) seine Machtfülle gezielt auszubauen sucht, verlor nicht bloß die Sympathien von Wladimir Putin – auch Barack Obama, zu dem er einen guten Draht hatte, musste notgedrungen auf Distanz gehen, und in ganz Europa wird Erdogan von Spitzenpolitikern, Medien und einer breite Öffentlichkeit mit zunehmend skeptischer Distanz beurteilt.

Die rasante Destabilisierung im Lande – politische Beobachter sind sogar überzeugt, dass die Türkei kurz vor einem Bürgerkrieg stehe – könnte letzten Endes in einen Super-GAU münden, nämlich eine neue Fluchtwelle nach Europa. Schließlich leben in der Türkei 15 Millionen Kurden, wobei die seit Juni 2015 erstmals im Parlament vertretene kurdische Partei HDP (Halklarin Demokratik Partisi) systematisch unter Druck gesetzt wird.  Ergogan und die  AKP werfen ihr Kontakte zur vielerorts als terroristische Vereinigung eingestuften Arbeiterpartei Kurdistans, der bereits in den Siebzigerjahren gegründeten PKK, vor. Mit den – von Beobachtern vor Ort als durchaus überzogen bewerteten – Militärschlägen gegen junge kurdische Provokateure provoziert der türkische Präsident genau das, was für die EU der absolute Horror wäre, nämlich eine weitere Flüchtlingswelle von ungeahntem Ausmaß.

Geld oder Flüchtlinge

Zur Zeit spielt sich in  den türkisch-europäischen Beziehungen Merkwürdiges ab: Die Türkei, die lobenswerter Weise schon mindestens 2,5 Millionen Syrer aufgenommen hat und damit neben Jordanien und dem Libanon seit vier Jahren die Hauptlast trägt, fordert von Brüssel bis zu fünf Milliarden Euro, damit sie den Flüchtlingsstrom aus Syrien und anderen Staaten eindämmen kann. Die EU-Kommission indes wäre unter Umständen im Zuge des ausgehandelten „Aktionsplanes“ maximal drei Milliarden Euro zu zahlen bereit – laut Kommissar Johannes Hahn „keinen Cent mehr“. Bisher ist freilich weder Geld geflossen noch haben sich weniger Asylwerber gen Europa aufgemacht. Die türkische Küstenwache ist offenbar völlig überfordert, 2.000 Kilometer Seegrenze wirksam zu überwachen, und die dortige Polizei kann oder will  gegen die Flüchtlinge auch so gut wie nichts unternehmen. Fazit: Wer die Hoffnung teilt, dass dieses Problem mit Geld zu lösen ist, der befindet sich ohnedies auf dem Holzweg.

Aber es geht noch weiter: Die Brüsseler Oberkapos haben der Türkei, die sich bereits 1987 um ein EU-Ticket beworben hatte, jedoch bei  den 2005 eröffneten Beitrittsverhandlungen keinen Schritt weiter gekommen ist, den Floh ins Ohr gesetzt, die Beitrittsgespräche wieder aufgenommen.  Und das, obwohl die Bereitschaft in den meisten EU-Staaten, Anatolien  irgendwann ins Boot zu holen, nur äußerst schwach ausgeprägt ist.  Allem Anschein nach strebt auch Erdogan, der ganz und gar nicht  für Demokratie und Rechtstaatlichkeit steht und laufend Menschenrechts zu verletzen bereit ist, einen Beitritt zur Union eben so wenig an wie der überwiegende Teil der türkischen Bevölkerung. Der Zug ist nämlich längst abgefahren, das gegenseitige Vertrauen ziemlich ramponiert – folglich wird es wohl auch beim Versprechen bleiben, es wieder einmal zu versuchen.  Das heißt also:  Die Union macht der Türkei vor allem deshalb schöne Augen, um sie zu motivieren,  bei der Flüchtlingkrise wirksam  zu bremsen. Erdogan wiederum lässt sich bereitwillig hofieren, weil ihm – nicht zuletzt aus wirtschaftlichen Gründen – an einer guten Gesprächsbasis mit den Europäern gelegen ist.  Das  stört offensichtlich Wladimir Putin auf ähnliche Weise wie der Flirt der Ukraine mit der Union. Obendrein ist dem unberechenbaren Präsidenten die Visafreiheit der Türken ein großes Anliegen.

Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel hat Erdogan bei ihrer Oktober-Visite in dessen prunkvollem Yildiz-Palast jedenfalls nicht umsonst umgarnt: Der türkische Präsident, naturgemäß bestrebt, aus der Paria-Ecke rauszukommen, hat nämlich erste Hausaufgaben bereits erledigt. Die Türkei führte  kürzlich zum einen eine Visumspflicht für syrische Staatsbürger ein und wird  zum anderen den Arbeitsmarkt für die Flüchtlinge aus dem Nachbarstaat öffnen. Dass Erdogan auch in anderer Hinsicht – etwa beim Kampf gegen die Korruption – herzeigbare Erfolge erzielt, muss allerdings stark bezweifelt werden. Dass er künftig nicht mehr gegen das Recht auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit verstößt, die Unabhängigkeit der Justiz und das Prinzip der Gewaltenteilung endlich akzeptiert sowie keinen direkten Einfluss mehr auf türkische Medien ausübt, ist bei einem Mann seines Zuschnitts ebenfalls sehr unwahrscheinlich. Und dass Erdogan schließlich die Eskalation des Konflikts mit der PKK noch in den Griff kriegt – also zum Einlenken bereit wäre – , ist vermutlich sogar gänzlich auszuschließen. Der Türkei bleibt damit nur eine einzige Chance, diese schwere Krise zu überwinden – die Zeit nach Erdogan…

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