Dienstag, 19. März 2024
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Ringen um Netzneutralität

Als EU-Kommissarin Neelie Kroes vergangenen September ein großes Regulierungspaket für den Telekom-Sektor vorlegte, hoffte sie, dass dies so etwas wie ihre politische Hinterlassenschaft würde, wenn sie Ende 2014 von ihrem Posten abtritt. Doch mit ihren Plänen für den Telekomsektor, die viele in Brüssel und den nationalen Hauptstädten für unausgegoren halten, hat sie sich viele Feinde gemacht.

[[image1]]Vor der Abstimmung des federführenden Industrieausschusses am Montag sind sich die Europaabgeordneten uneinig, wie ein so zentrales Thema wie Netzneutralität künftig geregelt sein soll. Es ist unklar, ob es Europa gelingen wird, die Weichen für die digitale Ökonomie richtig zu stellen.

Kroes wollte einheitliche Regeln zur Netzneutralität schaffen, nachdem einzelne Mitgliedsstaaten mit nationalen Gesetzen vorgeprescht waren. Die Niederlande und Slowenien beispielsweise haben den Begriff Netzneutralität sehr eng interpretiert. Kroes wollte ein Wirrwarr an nationalen Regeln vermeiden, was Ökonomen durchaus für sinnvoll erachten. Doch ihr Vorschlag ist oft ungenau und schafft Rechtsunsicherheit.  Drei deutsche Abgeordnete haben einen Antrag gestellt, dass die Kommission den Vorschlag zurückziehen und nachbessern soll, für den es allerdings keine Mehrheit gibt. Die Schattenberichterstatterin der Grünen, die Schwedin Amelia Andersdotter, beklagt die „schlechte politische Führung“, die die EU-Kommission bei einem so wichtigen Dossier an den Tag legt.

Streit um die Definition der Spezialdienste

Im Grundsatz plädiert die EU-Kommission für ein offenes, diskriminierungsfreies Internet für alle. Telekomanbieter und Diensteanbieter dürfen Endnutzern gegen Bezahlung Dienste einer höheren Qualität anbieten, so genannte „Spezialdienste“. Das würde bedeuten, dass eine Diskriminierung nach oben möglich wäre. An der genauen Definition der „Spezialdienste“ entzündet sich nun der Streit. Manche Abgeordnete möchten die Spezialdienste so eng begrenzen wie möglich, um die Qualität für alle im Internet möglichst hoch zu halten.

Manche halten dieses Argument jedoch für falsch. Telekomunternehmen argumentieren etwa, dass eine Einschränkung künftige Geschäftsmodelle abwürgen würde. „Da wird reguliert, ohne dass man die künftigen technischen Möglichkeiten überhaupt kennt“, sagt ein Branchenvertreter. Bei Anwendungen wie Telemedizin und Vidoekonferenzen kann die hohe Qualität entscheidend sein. Wenn das Bild ruckelt, werden sie wertlos. Sondervereinbarungen sind somit zentraler Teil des Geschäftsmodells.

Die Regulierung, über die in Brüssel entschieden wird, könnte auch Einfluss haben auf die künftige Entwicklung von Videoanbietern wie Netflix. In seinem Heimatmarkt USA ist der Weltmarktführer für Internet-Pay-TV bereits für über 30 Prozent des Verkehrs verantwortlich. In Großbritannien hat das Unternehmen ein Abkommen mit Virgin Media abgeschlossen, um hohe Qualität zu garantieren.

Die Ökonomen des „Centrum für Europäische Politik“ in Freiburg argumentieren, dass die Internetzugangsanbieter die Einnahmen der Spezialdienste benötigen, um den Breitbandausbau voranzutreiben. Kritiker setzen dem entgegen, dass dann von Netzneutralität nicht mehr die Rede sein kann.

Lobbyschlacht im Europäischen Parlament

In die politische Debatte haben sich die Betroffenen eingeschaltet. Abgeordnete kritisieren, dass die spanische Berichterstatterin Pilar de Castillo unter dem Einfluss des ehemaligen spanischen Telekommonopolisten Telefónica stehe. Abgeordnete berichten auch, dass die Gewerkschaften sich eingeschalten hätten, da sie Arbeitsplätze bei den großen Telekomunternehmen erhalten wollten.

Die Kompromissfindung verlief in dieser Woche äußerst zäh. „Mit jeder neuen Verhandlungsrund werden neue Komplexitäten hinzugefügt“, beklagt Andersdotter. Der Mitarbeiter einer Abgeordneten berichtet von einem Treffen, in dem nach anderthalb Stunden gerade ein Wort verändert war.

Das Plenum des Europäischen Parlaments wird im April über das Telekompaket abstimmen. Bis zur Umsetzung könnte dann aber noch eine ganze Weile vergehen, denn die EU-Mitgliedsstaaten haben im Rat die Beratung noch gar nicht ernsthaft aufgenommen. Die griechische Ratspräsidentschaft scheint an dem Thema wenig interessiert. Und es deutet sich nicht ab, dass die darauf folgende italienische Ratspräsidentschaft das Dossier mit Nachdruck bearbeiten wird. Bis Europas Verbraucher und Unternehmen Klarheit über die Netzneutralität bekommen, dürfte es noch geraume Zeit dauern.
 

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