Dienstag, 19. März 2024
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Flüchtlinge in Berlin

Die Verwaltung ist ihren Aufgaben nicht gewachsen. Simone Bischof führte für EU-Infothek ein Interview mit Hakan Taş, Mitglied des Abgeordnetenhauses (DIE LINKE) und Sprecher für Inneres, Partizipation und Flüchtlinge.

Die Situation vor der Erstaufnahmestelle für Flüchtlinge in Berlin-Moabit hat sich nicht verändert. Noch immer campieren hier hunderte Flüchtlinge, um sich registrieren zu lassen. Vor allem von den Berlinern werden sie mit Nahrungsmitteln, Decken, warmer Kleidung und längst auch mit Übernachtungsmöglichkeiten versorgt, denn einen Schlafplatz zugewiesen bekommt nur, wer registriert ist. Zu den Zuständen äußerte sich der Regierende Bürgermeister von Berlin, Michael Müller (SPD), Mitte November mit einem öffentlichen Rundumschlag, und forderte schnelle, strukturelle und personelle Verbesserungen im Landesamt für Gesundheit und Soziales (LaGeSo): „Wir haben dort inakzeptable Zustände, ich will diese Bilder nicht mehr sehen.“

Doch die Mitarbeiter des Amtes sind, wie in vielen anderen zuständigen Behörden auch, teilweise überfordert, denn die Schlangen der Wartenden, die auf Asyl hoffen, werden täglich länger.

Laut Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) sind bis einschließlich November dieses Jahres 965.000 Flüchtlinge nach Deutschland gekommen. Die meisten von ihnen kommen nach Berlin: Rund 65.000 sind bislang hier angekommen.

Hakan Taş, Mitglied des Abgeordnetenhauses (DIE LINKE) und Sprecher für Inneres, Partizipation und Flüchtlinge, wirbt seit Monaten für Toleranz und Mitmenschlichkeit mit den geflüchteten Menschen und packt auch selbst mit an, wenn Hilfe benötigt wird.

Simone Bischof: Herr Taş, wie beurteilen Sie die derzeitige Situation der Flüchtlinge in Berlin?

Hakan Taş: In Berlin haben wir aktuell über 113 Unterkünfte, in denen geflüchtete Menschen untergebracht sind. Täglich kommen zirka 300 bis 500 Menschen nach Berlin, etwa 15.000 Neuankömmlinge sind noch nicht registriert. Nicht registriert zu sein bedeutet, dass jemand an keinerlei Leistungen herankommt, weder Geld- noch Sachleistungen. Nicht registriert zu sein bedeutet aber auch, dass diese Menschen im Grunde offiziell nicht existieren. Teilweise sind diese Menschen nicht einmal erfasst, sie sind dann in irgendwelchen Turnhallen oder Notunterkünften untergebracht, wo sie auch keinerlei Gesundheitsversorgung haben. Bei den Kindern ist es genauso problematisch. In der Regel haben alle Menschen, die vom ersten Tag an in Berlin registriert sind, auch die gleichen Pflichten. Das heißt etwa, dass Schulpflicht für sie besteht. Wer nicht registriert ist, kann aber auch nicht in die Schule gehen. Und dann gibt es Klärungsverfahren für unbegleitete Minderjährige. Die Verfahren dauern ewig lange. Teilweise werden sogar Schätzungen vorgenommen, die mit den Tatsachen nicht identisch sind, um das Alter eines Kindes zu erfassen. Die Jungen oder Mädchen werden mitunter älter eingeschätzt, damit das Jugendamt oder die zuständigen Ämter für sie nicht verantwortlich sind. Allgemein gesagt herrscht in Berlin eine Verwaltungskrise, die durch die Verantwortlichen in der Senatsverwaltung erzeugt worden ist. 

… und die jetzt kaum noch in den Griff zu bekommen ist?

Vor einigen Wochen hat der Regierende Bürgermeister von Berlin, Michael Müller, eine Regierungserklärung abgegeben und hat deutlich unterstrichen, dass er diese Bilder vor dem Landesamt für Gesundheit und Soziale nicht mehr sehen will. Er hat an zwei unterschiedlichen Stellen den zuständigen Senator dazu aufgefordert, dass er zurücktreten soll, wenn er den Aufgaben nicht gewachsen ist und wenn er diese Probleme nicht lösen will. Ganz aktuell kann ich bestätigen, dass die Bilder, die ich am vergangenen Freitag dort gesehen habe, identisch mit den bisherigen sind. Das heißt, die Lage hat sich in Berlin überhaupt nicht verändert. Es gibt riesengroße Unterkünfte, in denen viele hunderte Menschen untergebracht sind. Teilweise werden Turnhallen beschlagnahmt, obwohl sie keine geeignete Lösung zur Unterbringung von Flüchtlingen sind. Allein in Berlin haben wir 700 Objekte, die der zuständigen Verwaltung angeboten wurden, aber die nach wie vor nicht überprüft worden sind. 148 ehemalige Mitarbeiterinnen der Verwaltung haben angeboten, zu helfen und dazu beizutragen, dass die Menschen schnell registriert werden können. Von diesen 148 Menschen, die sich gemeldet haben, sind bis jetzt lediglich vier Personen eingestellt worden. Das macht noch mal deutlich, dass Berlin eher an einer Abschottungs- beziehungsweise Abschreckungspolitik festhalten will – bis zu den Wahlen, die am 18. September 2016 in Berlin stattfinden werden. Insbesondere die CDU-geführten Verwaltungen rechnen sich damit aus, somit vielleicht noch ein paar Punkte zu holen. Auf dem Rücken der Flüchtlinge darf man jedoch keine Politik machen. Das werden wir (Anm.d.Red: DIE LINKE) nicht zulassen. Auf der anderen Seite müssen wir genau hinhören, was die Gegner sagen. Und wir müssen auch auf ihre Fragen Antworten finden. Damit meine ich nicht, dass wir uns mit der Führungsriege der AfD, der Bärgida oder Pegida unterhalten sollen. Vielmehr müssen wir sehen, welche Ängste die Menschen haben, die mit solchen Gruppierungen sympathisieren. Wie gesagt, nicht die Flüchtlinge, die nach Berlin kommen, erzeugen die Krise, sondern die Verwaltung ist für die Krise in der Stadt verantwortlich. Flüchtlinge, die nach Deutschland und Berlin kommen, müssen auch als Chance verstanden werden.

Verlässt sich Berlin zu sehr auf die Berliner, dass sie helfen? 

Tatsächlich ist es so, dass die Arbeit der Verwaltung von den Ehrenamtlichen in der Stadt übernommen wird. Sie leisten eine tolle Arbeit, aber sie leisten die Arbeit der Verwaltung. Das muss man unterstreichen. Ohne diese Menschen hätten wir eine viel größere humanitäre Katastrophe. Sie helfen an unterschiedlichen Orten und packen mit an, bauen Betten auf und sorgen dafür, dass die Turnhallen bereitstehen, wenn Flüchtlinge ankommen. 

Wie würden die Flüchtlinge überleben, wenn es die vielen freiwilligen Helfer nicht geben würde?

Ohne diese Menschen und ohne ihre Arbeit hätten wir viele Todesfälle unter den Flüchtlingen in Berlin. Viele von ihnen schlafen noch immer unter freiem Himmel vor dem LaGeSo. Die Helfer tragen dazu bei, dass diese Zahl geringer wird, indem sie Privatunterkünfte für die Nacht organisieren. Es ist noch immer so, dass von denen, die in Berlin ankommen, 100 bis 200 Personen täglich privat untergebracht werden müssen, weil menschenwürdige Unterkünfte – und Unterkünfte überhaupt – von der zuständigen Senatsverwaltung nicht realisiert werden. Die Verwaltung, und damit meine ich Senator Czaja, aber auch die anderen Senatoren, ist ihren Aufgaben nicht gewachsen. Die Berliner Regierung hat insbesondere in der Frage der Flüchtlingspolitik komplett versagt.   

Wie viele Quadratmeter stehen einem Menschen in einer Flüchtlingsunterkunft zu?

Einem deutschen Schäferhund stehen festgeschrieben acht Quadratmeter zur Verfügung an den Orten, wo die Hunde untergebracht sind. Für einen Flüchtling in Deutschland stehen theoretisch sechs Quadratmeter zu Verfügung. Aber wenn man sich derzeit etwa in Berlin-Tempelhof die Belegung in den ehemaligen Luftschiffhallen ansieht, kann man sehr schnell feststellen, dass gerade einmal zwei Quadratmeter pro Person zur Verfügung stehen. Und das ist, was DIE LINKE immer wieder kritisiert: Wenn ein Schäferhund sogar acht Quadratmeter für sich beanspruchen kann, warum werden dann Menschen, die in Berlin Schutz suchen, in Notunterkünften auf zwei Quadratmetern eingepfercht, wo Geschlechter und besondere Schutzbedürfnisse überhaupt keine Rolle mehr spielen. Diese Zustände sind nicht hinnehmbar, sie sind menschenunwürdig und deshalb muss die Bundesregierung aber auch das Land Berlin darauf reagieren.

In Berlin soll eine neue Behörde geschaffen werden, um das LaGeSo zu entlasten. Ist das sinnvoll? Sollen damit vielleicht Posten für Personen geschaffen werden, die darauf angewiesen sind in absehbarer Zukunft? 

Die Senatsverwaltung ist für solche Ideen allgemein immer wieder bekannt. Ich erinnere daran, dass sie die Bundesallee als Lösung präsentiert haben, um dort über tausend Registrierungen von Flüchtlingen pro Tag vornehmen zu wollen. Aktuell sieht es so aus, dass 300 Menschen pro Tag registriert werden. Das heißt, die neue Stelle hat das auch nicht geschafft. Jetzt soll Berlin eine neue Behörde bekommen, ein Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten, die an derselben Adresse bleiben und mit dem gleichen Personal arbeiten soll. Im aktuellen Haushalt sind aber keine zusätzlichen Mittel dafür bereitgestellt worden. Der Senat hat jetzt irgendetwas beschlossen, wo keiner genau weiß, was diese neue Behörde anders machen soll. Klar ist nur, dass der bisherige Präsident vom LaGeSo, Franz Allert, dafür nicht zuständig ist. Die ganzen persönlichen Konflikte zwischen dem bisherigen Leiter und dem zuständigen Senator haben dazu geführt, dass man eine neue Behörde schafft, damit man Allert abseits stellen kann. Ohne zusätzliches Personal und ohne zusätzliche Mittel wird eine Behörde geschaffen, die die Aufgaben und Probleme auch nicht anders löst, und die bisherigen Probleme im Bereich Registrierung und Unterbringung werden wir in Berlin weiterhin haben. Eine neue Behörde braucht neues Personal, man muss sich im Vorfeld Gedanken machen, was eine Behörde überhaupt machen soll und nicht nachdem sie geschaffen wurde.

Was wäre eine wirklich sinnvolle und nachhaltige Alternative in der Flüchtlingsfrage? Auch um kurzfristig eine große Zahl abzuarbeiten. Oder ist das inzwischen unmöglich, weil es einfach zu viele Menschen inzwischen sind?

Gerade nach Berlin kommen viele Menschen, die Schutz suchen, die hier ankommen, hier bleiben und auch am gesellschaftlichen Leben teilhaben wollen. Wichtig ist wie gesagt, diese Menschen schneller zu registrieren, damit sie alle ihnen zustehenden Leistungen bekommen. Dazu gehört auch die Teilnahme an Integrationskursen und dass sie Deutsch lernen können. Wir brauchen mehr Personal in der zuständigen Verwaltung, und deswegen ist es auch wichtig, dass neue Stellen ausgeschrieben werden und neues Personal eingestellt wird, wofür wiederum die Mittel bereitgestellt werden müssen. Auf der anderen Seite müssen wir von den Angeboten auch Gebrauch machen, um kurzfristig schneller jeden einzelnen Fall bearbeiten zu können. Die besagten 148 ehemaligen Verwaltungsmitarbeiter haben sich bereit erklärt, sofort einzuspringen. Wenn davon bisher lediglich vier eingestellt wurden, trägt das nicht zur Beschleunigung bei. Daran können wir feststellen, dass die CDU-geführte Senatsverwaltung und auch der Innensenator Frank Henkel selbst mit Blick auf die Wahl im nächsten Jahr an der Abschottungs- und Abschreckungspolitik festhalten. Damit werden sie aber nicht punkten. Damit werden sie verlieren, weil die Verwaltungskrise, die sie dadurch verursacht haben, einfach öffentlich geworden ist und die Menschen in der Stadt auch sehen, wer die Arbeit hier tatsächlich macht, nämlich ehrenamtliche Kräfte. Ein Punkt ist mir besonders wichtig: Weltweit sind zirka 60 bis 65 Millionen Menschen auf der Flucht. Aus unterschiedlichen Gründen haben sie ihre jeweilige Heimat verlassen. Jeder Mensch, egal aus welcher Region, aus sicherer oder unsicherer Herkunft, der nach Berlin findet, muss Schutz bei uns finden. Das ist entscheidend und wichtig. Uns sind viele Fälle aus den ehemaligen Balkanstaaten bekannt, wo Menschen aufgrund der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Bevölkerungsgruppe diskriminiert und ausgegrenzt werden und auch nicht immer dieselbe Teilhabemöglichkeit haben, wo die Kinder nicht am Schulunterricht teilnehmen dürfen. Das heißt die Ausgrenzung zum Beispiel auch aufgrund homosexueller Orientierung muss als ein Asylgrund in Deutschland anerkannt werden, denn auch diese Menschen brauchen unseren Schutz. Deutschland hat nicht zu viele Menschen aufgenommen, wie immer wieder behauptet wird. Wenn man sich insbesondere die Nachbarstaaten von Syrien anschaut wird man ganz schnell feststellen, dass Deutschland nur einem ganz geringen Anteil der Schutzsuchenden einen Platz bei sich angeboten hat. 

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Nachtrag: Am Montag dieser Woche haben 40 Rechtsanwälte Strafanzeige gegen den Berliner Sozialsenator Mario Czaja (CDU) und den Behördenleiter Franz Allert gestellt. Beide werden für die anhaltenden kritischen Verhältnisse am Landesamt für Gesundheit und Soziales verantwortlich gemacht. Der Vorwurf: Körperverletzung und Nötigung im Amt.

 

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